: Ich blute, ich erinnere mich, es tut weh, ich bin
DASEIN Kürzestgeschichten voller Sehnsuchtsmetaphern: Arnold Stadler schreibt Zeilen aus dem Zweistromland zwischen Rhein und Donau – „New York machen wir das nächste Mal“
Das Leben, so hat Arnold Stadler es einmal formuliert, sei eine einzige Abschweifung und nicht systematisierbar. Da ist es nur folgerichtig, dass auch die Literatur, die über dieses und aus diesem Leben heraus entsteht, sich in Abschweifungsschleifen bewegt. Arnold Stadlers Texte funktionieren nicht, nicht in einem konventionellen Sinne, sie gehen nicht glatt auf; stattdessen stehen sie roh und in aller Ungeschütztheit vor uns.
Das neue Buch trägt keine Gattungsbezeichnung und besteht aus kurzen und sehr kurzen Episoden, Lebenserzählungen, Anekdoten, Beobachtungen, Reflexionen. Johann Peter Hebels „Kalendergeschichten“ haben Pate gestanden. Den Hebelpreis hat Stadler 2010 bekommen.
Manchmal sind es nicht mehr als drei oder vier Zeilen, in denen eine ganze Existenz erzählt wird. Das geht dann beispielsweise so: „In der Nacht vom 21. auf den 22. Juni stürzte er sich vor den Zug. Es war sein erstes Lebenszeichen.“
Vieles kommt einem bekannt vor, manches hat man so wahrscheinlich sogar schon einmal gelesen. Man begegnet Figuren aus früheren Romanen wieder, aus der Trilogie der ersten Bücher, die Stadler 2009 in einer überarbeiteten Fassung unter dem Titel „Einmal auf der Welt und dann so“ noch einmal veröffentlicht hat, oder aus „Komm, gehen wir“: den Schriftsteller Roland, ein Stadler’sches Alter Ego, und auch Rosemarie und den Amerikaner Jim. Amerika – das bleibt nach wie vor eine Sehnsuchtsmetapher. Und voller Sehnsucht sind sie alle, die Menschen aus Schwäbisch Mesopotamien, aus dem Zweistromland zwischen Rhein und Donau, dem Stadler auch selbst entstammt.
In der kurzen Form gelingt ihm Außergewöhnliches: Der Blick auf die Welt wird schärfer und noch ein wenig prägnanter, trotzdem gehen weder der Tonfall noch der ganz und gar eigentümliche Humor, der Stadlers Prosa auszeichnet, verloren. Er, der studierte Theologe, der genau weiß, dass wir alle nur Gast auf Erden sind, denkt die Anfänge von ihrem Ende her und lässt einen Baumeister zu Wort kommen, der sagt: „Man muss beim Bauen auch ans Abreißen denken!“ Die kurzen Stücke treffen die Menschen in ihrem Dasein, in ihrer „Schwarzwaldtannenschwermut“, in ihren Leben, das nicht selten aus einer Reihung von Niederlagen besteht. „Wenn Roland“, so heißt es gleich auf der ersten Seite, „sein uraltes, handgeschriebenes Buch mit den Telefonnummern und Adressen durchging, stieß er auf eine Welt der Enttäuschten.“ Und später: „Er, das war jener, der von allen der Enttäuschteste war.“
Um einen Abgleich geht es zwischen dem Damals und dem Heute, der allerdings nichts Nostalgisches und nichts Genussvolles hat. Die Erinnerung ist die machtvollste Gegenwart, die man sich überhaupt vorstellen kann. Der, der da schreibt, der „Nachrichten aus der Gegend gleich hinter dem Schwackenreuter Wäldchen“ sendet, ist einer, dem die Welt zu eng geworden ist, der aber gleichzeitig die Menschen in der engen Welt nicht hinter sich lassen kann und will: „Ich blute, ich erinnere mich, es tut weh, ich bin.“ In den profanen Alltag der Großmütter, Großväter, Onkel und Tanten setzt Stadler geradezu sakrale Momente hinein. Die Wortfelder sind religiös aufgeladen – von Erwartung ist die Rede, von Hoffnung, von Wundern und selbstverständlich von der Erlösung.
Diesem Moment des Religiösen und der sich dahinter verbergenden Tragik steht der allgemeine Sprachgebrauch entgegen, der sich in der permanenten Abmilderung der Tragödien ergeht: Aus „sterben“ wird „gehen“, aus der „Sünde“ ein „Fehler“. Das Früher und das Jetzt. In diesem Zwischenraum des Bewusstseins spielt sich bei Arnold Stadler, zumindest in diesem Buch, das Entscheidende ab. „Damals war die Sehnsucht seine Zukunft, so wie die Vergangenheit nun sein Heimweh war.“ Das ist nicht nur Stadler’sche Formulierungskunst in Reinkultur. Konsequent zu Ende gedacht, ist es auch ziemlich grausam.
CHRISTOPH SCHRÖDER
■ Arnold Stadler: „New York machen wir das nächste Mal. Geschichten aus dem Zweistromland“. Fischer, Frankfurt a. M. 2011, 220 Seiten, 17,95 Euro