: Das Montagsinterview„Mit Lino auf dem Rücken“
Auf seinen Foto-Reisen hat André Lützen immer seinen kleinen Sohn dabei. Das öffnet ihm die Türen und auch die AugenKUNST ODER KINDER Der Fotograf André Lützen dokumentiert mit der Autorin Nora Luttmer ferne Länder. Ein Gespräch über die Kernfamilie, veränderte Perspektiven und verengte Kunst
INTERVIEW MAXIMILIAN PROBST
taz: Herr Lützen, was ist Ihr häufigstes Motiv in der letzten Zeit?
André Lützen: Das kann ich gar nicht sagen, aber es gibt Bilder, die man immer wieder macht, zum Beispiel Bilder bei Nacht.
Dann wird Ihr Sohn aber nicht oft das Motiv abgeben.
Trotzdem ist er oft dabei. Jetzt war ich drei Wochen in Hanoi und habe nachts fotografiert. Immer mit Lino auf dem Rücken.
Auf den Bildern sieht man ein stark heruntergekommenes Hanoi. Ist das die richtige Umgebung für ein Kind?
Das ist die pädagogisch unkorrekte Frage … So sieht Hanoi halt aus. Mir kamen auch an keinem Ort Bedenken, Lino mitgenommen zu haben. Die Vietnamesen sind sehr kinderlieb. Lino war eine richtige Attraktion, blond, wie er ist. Von jedem wurde er gestreichelt, angefasst, beschenkt – was ihn ziemlich gestört hat, weil er gar nicht so sehr auf Körperlichkeit steht.
Wie hat er denn so reagiert? Ist ja nicht ohne, sich von einem Tag auf den anderen im wuseligen, lauten, dreckigen, stickigen Hanoi wiederzufinden.
Stimmt. Auch für uns ist das nicht einfach. Wenn wir aber zwei, drei Tage zum Eingewöhnen brauchen, dann Kinder mindestens eine Woche, um zu begreifen, wo sie sind, und warum alle so anders aussehen.
Und wenn sie es begriffen haben?
Dann wird es nett. In Linos Vorstellung war Vietnam verbunden mit Kung Fu. Es hat ihn auch beschäftigt, dass aus der Gegend Pandas kommen. Oder der Ahnenkult: Bei Vollmond und Halbmond wird nachts in die Tempel gegangen, um den Verstorbenen Opfer zu bringen. Das versucht man ihm zu erklären und raus kommt das kleine Gespenst, das irgendwo in Tempeln haust.
Vor Vietnam wart ihr drei Monate in den USA. In dem Buch: „Before Elvis there was nothing“ ist auch ein Bild von Eurem Sohn drin.
Das Buch ist Lino gewidmet, darum wollte ich das Bild drinhaben. Zu dem Zeitpunkt war er zwei Jahre alt, und war genau so groß wie jede Tischkante, auf die er aber nicht gucken konnte. Die Aufnahme habe ich an der Kasse eines Walmarts gemacht, wo er versucht, etwas vom Tisch herunterzuziehen, von dem er weiß, dass wir es für ihn gekauft haben. Nur der Haarschopf und die Hand sind von ihm zu sehen.
Im Wohnmobil unterwegs. On the road – mit einem Zweijährigen. Gab es da Momente, wo Ihr gedacht habt: Mein Gott, was machen wir hier eigentlich?
Ich glaube, solche Momente gehören zu jedem Roadmovie dazu. Da hält man alles für sinnlos und furchtbar, und sagt sich: Lass es uns abbrechen und nach Hause fahren. Aber mit dem nächsten Tag wird alles anders.
Können Sie diesen kriselnden Moment konkretisieren?
Das ist ganz einfach: Man hat einfach einen schlechten Tag. Denn in einem Zeitraum von drei Monaten wird die Reise zum Alltag. Da kommt es vor, dass man keine Lust hat aufzustehen oder genügend Dinge einfach nicht so laufen, wie wir es uns wünschen.
Zum Beispiel?
Ach, dass es morgens schon Streit mit den Kind gibt, weil es irgendetwas nicht anziehen will.
Die Enge des Wohnmobils, die Kernfamilie, zwei Eltern, ein Kind: Ballt sich in dieser Situation das Konfliktpotenzial?
Klischee. Nein. Es muss sich nicht summieren, nur weil man auf beengtem Raum lebt. Gerade weil der Raum eng ist, agiert man anders und geht besser aufeinander ein.
Auch ein zweijähriges Kind?
Ich weiß: Für unsere Vorstellungen klingt das ganz furchtbar, wo man davon ausgeht, dass jedes Familienmitglied mindestens ein eigenes Zimmer haben muss, um die Tür hinter sich zuziehen zu können, um die anderen nicht mehr zu sehen. Das hält man für ein gesundes Zusammenleben – ist aber nur ein westeuropäischer Luxus. In Hanoi leben vier bis sechs Leute in zwei Zimmern. Lino redet jedenfalls noch heute davon, dass er unbedingt mal wieder mit dem Wohnmobil durch Amerika reisen will.
Was hat ihm denn so gefallen?
Am meisten, dass wir, wenn immer wir angehalten haben, gleich draußen waren. Morgens aufstehen und gleich in der Natur sein: das gefiel ihm extrem gut. Und dass genügend Tiere um ihn herum waren, Gürteltiere, Elche, Waschbären.
Nebenbei haben Sie fotografiert. Nun gibt es ja die Vorstellung, dass man den entscheidenden Moment treffen, sehr schnell reagieren muss. Wie funktioniert das – mit dem Klotz Kind am Bein?
Es gab genügend Tage, an denen ich alleine losgegangen bin. Es gab aber auch genügend Tage, an denen ich Lino mitgenommen habe. Das hat mir auch Türen geöffnet. Denn auf einmal bin ich nicht der einsame Mann mit der Kamera, der misstrauisch beäugt wird, sondern stehe in einem Familienzusammenhang.
Das Umfeld …
… kehrt sich auf einmal um. Man reagiert viel freundlicher auf mich – was jetzt nicht heißen soll, dass ich mein Kind dazu benutzt habe, um in andere Situationen zu kommen.
Verzerrt das nicht auch die Wirklichkeit? Mit dem Ergebnis, dass Sie nicht mehr die Härte der Welt ablichten, sondern sie in ein mildes Licht tauchen?
Den Standpunkt, dass es in der Dokumentarfotografie nur darum gehe, die Härte und das Elend dieser Welt zu fotografieren, halte ich für überholt. Es gibt viele Facetten, aus den sich diese Welt zusammensetzt. Und indem ich auch Momente zeige, die sehr schön sind, ergibt sich ein Kontrast, wenn daneben das Bild von Einsamkeit gestellt ist. Erst dann schließt sich der Kreis, oder anders gesagt: entsteht das Bild, das wirklich existiert.
Klingt ein wenig nach früher wild, heute mild. Und dass Ihr Sohn dabei eine Rolle spielt.
Ich könnte diesen Überbau jetzt machen: seit ich Vater bin und so weiter. Aber ich könnte auch sagen, die Fotografie hat sich bei mir unabhängig davon entwickelt. Je älter du wirst und je länger du mit einem Medium arbeitest, desto mehr probierst du neue Dinge aus. Du betrachtest viele Situationen und Orte anders. Wenn ich immer nur das Bild machte, von dem ich weiß, dass es funktioniert, würde ich anfangen, mich zu langweilen.
Davon abgesehen: Was bedeutet Ihr Sohn für Ihre Fotografie?
Sicher ist es so, dass ich die Welt anders sehe, seitdem ich Vater bin. Oft genug wechsele ich einfach die Perspektive und bediene mich der Augenhöhe meines Sohns. Was ist sein Winkel, um die Welt zu betrachten? Umgekehrt sieht er mich immer mit Kamera und will dann natürlich auch eine haben. Die Bilder, die er knipst, sind für mich ganz erstaunlich in ihrer unverstellten Wahrnehmung, in ihrer instinktiven und spontanen Betrachtung der Dinge. Bei mir laufen ja immer gleich die von der Kunst- und Fotografiegeschichte tradierten Bildvorstellungen ab: die Grade und jene Linien, dort die Form und jene Farbe.
Eine alte Geschichte: Der Künstler lernt vom Kind?
Ja und nein. Mich interessiert, was Lino macht. Aber ich würde nicht sagen, dass sich seit dem alles verändert, dass mich der Umgang mit Kindern entscheidend bereichert hat. Es ist eine Facette, die hinzugekommen ist.
William Eggleston und Antoine D’Agata sind zwei wichtige Fotografen für Sie. Kommen auf deren Bildern Kinder vor?
Bei D’Agata nicht, so weit ich weiß. Eggleston hat auch Kinder fotografiert, auch wenn er Kindheit nicht explizit als Thema aufgreift. Grundsätzlich ist es mühsam, bei Kinderbildern nicht in die niedliche Welt der Kalender abzurutschen. Da fallen mir kaum Fotografen ein, die das versucht hätten und noch weniger, denen es gelungen wäre.
Wie fotografieren Sie Ihren Sohn?
Ich versuche, jede Nuance mitzunehmen. Natürlich empfinde ich mich manchmal als gemein, wenn sich Lino auf den Boden wirft, weil er eine Sache nicht bekommt – und ich die Kamera zücke. Aber einen Tag später denke ich schon: Es war verflucht gut, das Bild zu machen. Auch, um es ihm zeigen zu können und zu sagen: „Hier, Freundchen!“