Im Vollbesitz ihrer Zweifel

„Es ist kein Ende abzusehen, es sei denn ein medizinisches“: In Lübeck trafen sich Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Peter Rühmkorf, um Gedichte aus den letzten fünf Jahrzehnten vorzutragen. Leise Selbstironie einte die Dichter, deren „Generationskonstante“ Rühmkorf 1962 konstatierte

Dann und wann blitzte der Furor der frühen Jahre auf, doch bald darauf wich er dem elegischen Tonfall der Rückschau

VON ALEXANDER CAMMANN

„Peter, Peter!“ Die Stimme des Hausherrn hallt über den kleinen Hof in der Lübecker Glockengießerstraße, während sich die Sonne an diesem warmen Frühlingstag allmählich neigt. Schließlich tritt auch Peter Rühmkorf zu Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass, bereit fürs Blitzlichtgewitter. Drei alte Glückskinder beim Warming-up für die Show am Abend, geboren in den wenigen guten Jahren der Weimarer Republik, scheinbar unsterbliche Dinosaurier der deutschen Literatur.

Nach dem Posieren für die Kameras führt der Gastgeber die Genossen höchstselbst durch sein Günter-Grass-Haus: Ausstellungsräume in Anthrazit, edelste Ausführung und gedämpftes Licht. Hier kann, wer will, schon mal die Entstehungsphasen von Grass' jüngster Novelle „Im Krebsgang“ studieren. („Der Butt ist scheiße“, kommentiert das Gästebuch, den Stil des Hausherrn subtil nachempfindend.) Dies ist der ideale Raum für die (Selbst-)Inszenierungen eines Literaturnobelpreisträgers: „Goethe und Grass als Landschaftszeichner“ hieß eine Ausstellung aus dem vergangenen Jahr. Der vom stolzen Grass geleitete Enzensberger findet das alles denn auch „erschlagend“ – womit er wohl nicht nur die Aura der Objekte, sondern auch die Repräsentationslust des Gastgebers meinen mag. Befremdlich sind die Anleihen am Mythos Lübeck allemal: nach Marzipan, Thomas Mann und Willy Brandt nunmehr Lübeck als geistige Lebensform für den zugezogenen Grass. Im Abendlicht wird hier für den Nachruhm gesorgt.

Die bundesdeutsche Literatur nach 1945 birgt immer noch ein Geheimnis: das ihres immensen und bis heute andauernden Erfolgs. Wem dieses ungelöste Rätsel immer noch zu schaffen macht, der konnte am Freitag bei einem ungewöhnlichen Literaturbetriebsevent erneut nach Antworten suchen. In Lübeck lasen – nach ihrer Visite im Hause Grass – Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf und Günter Grass eigene Gedichte aus fünf Jahrzehnten. Dass das eine Großveranstaltung werden würde, kündigte schon ihr peinlicher Titel „Gipfeltreffen der deutschen Lyrik“ an. Seit Wochen war der Konzertsaal der Musikhochschule ausverkauft, der Raum trotz der Eintrittspreise von 25 Euro bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine PR-Agentur kümmerte sich extra um den angerückten Pressepulk, Fernsehen und Rundfunk zeichneten auf. Und Deutschlands Oberpoetologe und Peter-Hacks-Jünger Wiglaf Droste hatte gewohnt luzide seine Einwände via Radio vorab zu Protokoll gegeben.

Nun also saßen die drei Alten tatsächlich einträchtig nebeneinander auf der Bühne, hinter langsam sich leerenden Rotweingläsern auf dem weißen Tisch. Würde sich der „lyrische Gleichklang“ einstellen, von dem Grass gesprochen hatte? Oder zumindest die „Generationskonstante“, die Rühmkorf 1962 in den Gedichten der drei entdeckt hatte?

Unter den Orgelpfeifen des Saales deklamierend, vermied ihr lyrisches Ich jedenfalls die hohen Töne. Zwei Stunden lang durchschritten sie, einander abwechselnd, ihre jeweiligen dichterischen Lebenswege, dabei eher melancholisch gerührt als triumphierend. Mit dem „Vollbesitz seiner Zweifel“ von 1954 gab der überragende Rühmkorf heiser singend die Stimmung vor: „nicht zu predigen habe ich mich / an diesem Holztisch hernieder gelassen“. „Nehmt getrost vom Abendgift“, hatte er schon 1959 in seiner „Variation auf das Abendlied von Matthias Claudius“ empfohlen. Überraschend war ohnehin die leise Selbstironie, die die drei Dichter einte: „steig zu mir ins Hemd, / mein Alterswerk“ (Rühmkorf schon 1975), „und dass das alles nicht neu ist, / dass das Leben schön ist, / das wissen wir schon“ (Enzensberger). „Wenn unser Horizont nur / Horizont unseres Kritzelns ist“ (Grass): Wer wollte, konnte die Zusammenstellung auch als Kommentierung eigener Vergeblichkeiten interpretieren.

Heiter lächelnd hörten sie einander beim Vortrag zu, während das Publikum immer wieder dankbar applaudierte und Enzensberger sogar ein „Super!“ einheimste. Kontrovers war da kaum etwas, auch wenn sich die drei zwischendurch ihrer lange zurückliegenden politischen Scharmützel erinnerten. Die lyrischen Unterschiede kamen so kaum zum Tragen: Zu gerne hätte man vernommen, was der Großdichter Enzensberger über den „Gelegenheitsdichter“ (Grass über Grass) zu seiner Rechten wirklich dachte. Lustig schien er dessen parallel zu Aquarellarbeiten entstandenen „Aquadichte“ aus den Neunzigerjahren zu finden: „alle Farben sollen privatisiert / und der Marktlage angepaßt werden“, erklang Grass' altes antikapitalistisches Lied in den „Fundsachen für Nichtleser“. Der Furor der frühen Jahre blitzte zwar dann und wann auf, doch der elegische Tonfall der Rückschau legte sich wie ein dämpfender Filter über die Worte. „Letzte Tänze“: Grass' jüngster Gedichtzyklus als heimliches Motto dieses Abends? Enzensberger mimte jedenfalls nach Zugabe und Schlussapplaus den kindlichen Spring-ins-Feld und hüpfte in die Kulissen.

„Wir machen weiter“, hatte Grass auf der Pressekonferenz am Nachmittag verkündet: „Es ist kein Ende abzusehen, es sei denn ein medizinisches.“ Dass am Abend diese Ankündigung nicht mehr als Drohung im Ohr klang, lag am Punktsieger dieses Aufeinandertreffens: Peter Rühmkorf. Gerade bei den gegen Ende vorgetragenen Werken aus den vergangenen Jahren wurden die Qualitätsunterschiede deutlich. Bei Enzensberger vernahm man die als Altersmeditation getarnte Mattheit seines Zyklus „Geschichte der Wolken“ oder die das Klischee nicht scheuende poetische Erinnerung „Alte Heimat“: „Am Gartenzaun blüht immer noch der Flieder.“ Und ebenso autobiografisch simpel fiel die Rückschau des Nobelpreisträgers unter dem sinnigen Titel „Kleckerburg“ aus: „in Geschichte war ich immer gut“.

Der körperlich angeschlagene Rühmkorf vibrierte dagegen in seinem stolzen Klagelied über die eigene Hinfälligkeit: Wie anders war es „früher, als wir die großen Ströme noch / mit eigenen Armen teilten“. Nunmehr herrsche das Wissen, „daß Du selbst die Regale räumen mußt“ Und schlimmer noch: „vom Dreck ergriffen steht die Menge da“. Das Publikum konnte er damit nicht meinen, Bravo-Rufe brandeten zu Recht auf.

Lyrik als geistige Lebensform: Dass Enzensberger, Rühmkorf und Grass auf ihre alten Tage noch einmal gemeinsam die Dichtkunst beschwören würden, war in den letzten Jahren kaum vorhersehbar gewesen. Immerhin hatte der Generationsgenosse und Abwesende dieses Abends, Martin Walser, vor einiger Zeit Rudolf Borchardt für sich entdeckt. Doch Enzensberger schien nur noch Spaß am Aufschrecken der Buchbranche zu haben, siehe die angekündigte Einstellung seiner Anderen Bibliothek bei Eichborn oder die beispiellose Inszenierung der von ihm herausgegebenen Alexander-von-Humboldt-Schwarte. Auch Peter Rühmkorf hatte im letzten Jahr noch einmal versucht, endlich etwas prominenter zu werden – und sei es durch die liebevolle Zusammenstellung eines Bildbandes mit Zeugnissen aus seinem Leben oder das Erscheinen seiner „Tabu II“-Tagebücher aus den Jahren 1971/72. Der unverwüstliche Grass hingegen reiste mit Judith Hermann in den Jemen und vor ein paar Wochen mit seinen Töchtern nach Kalkutta, kämpfte für die Autorenrechte in der Urhebergesetzgebung und half seiner Ministerpräsidentin Heide Simonis vergeblich im Wahlkampf.

Die gemeinsame Rückschau in Lübeck war also durchaus ein Innehalten im laufenden Betrieb. Dabei passen die retrospektiven Züge dieses Dichtertreffens zum vorherrschenden Geist der Inventarisierung. Überall Nachlässe zu Lebzeiten: Martin Walser hat zuletzt seine Ausstellung in München sowie seine dickleibige Biografie vom wohlwollenden Jörg Magenau bekommen; der erste Band seiner Tagebuchjournale erscheint im Herbst. Das Klagelied über die erdrückende Macht der Alten klingt jedoch schief, jedenfalls solange sich die Jüngeren weiterhin in Internetplattformen verlieren (www.richtige-literatur.de) oder andere sich weinerlich in Interviews darüber beklagen, dass die heutige Literaturkritik nicht mehr Autoren hoch schreibe wie angeblich noch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. „Eine erstklassige Klassik schafft man nicht im Sitzen“, dichtete Peter Rühmkorf schon 1964.

Dabei könnte der nüchterne Blick auf die Alten die Jungen durchaus trösten. Denn nach 1945 ist hierzulande kein Benn, kein Borges und auch kein Brodsky aufgetaucht. Doch woher rührt dann das Erfolgsgeheimnis der deutschen Nachkriegsliteratur? Die Antwort hat vielleicht schon vor Jahren Hans Magnus Enzensberger geliefert, als er in „Mittelmaß und Wahn“ sein Hohelied des Mittelmaßes anstimmte. Für die mittlere Gefühligkeit der alten bundesrepublikanischen Welt, die bis heute nachlebt, boten deren Literatur und Dichtung einfach die passende Stimmlage. Darüber hat an diesem Abend mit den drei Dichtern auch der Mythos Lübeck nicht gänzlich hinwegtäuschen können.