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Archiv-Artikel

Gescheiterte Flucht

ENGAGIERTES THEATER „Bilal – Leben und Sterben als Illegaler“ ist ein ehrgeiziges Stück der Landesbühne Nord über die Festung Europa aus dem Blickwinkel der Ausgeschlossenen – aber leider gescheitert

Anteilnahme war unmöglich. Oder gar das Gefühl: Das könnte dir auch passieren

VON ULRICH FISCHER

Es beginnt mit einer Szene in Italien: Fabrizio Gatti, ein Journalist, bestürmt seinen Chef, ihn nach Afrika zu lassen. Er will der Spur der Männer und Frauen folgen, die nach Europa wollen, um dort mit harter, ehrlicher Arbeit Geld zu verdienen. Jene Flüchtlinge, die so oft scheitern. Der Chef lehnt brüsk ab: Viel zu gefährlich. Wie viele kommen um? Spätestens ertrinken sie beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren! Aber die Geschichte ist so heiß, dass der Redaktionsleiter sich breitschlagen lässt – Fabrizio Gatti zieht los – unter dem Tarnnamen „Bilal“.

Und dann erleben wir Stationen des Leidenswegs in Afrika: Die Gewalt der Schlepper, der Polizei, der Soldaten. Die Flüchtlinge sind ihnen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das einzige Schmiermittel, um weiterzukommen oder wenigstens bleiben zu dürfen, ist Geld. Längst sind die Mittel erschöpft, es bleiben nur Diebstahl und Prostitution, Bettelei, Demütigung, Erniedrigung. Zurück – das ist unmöglich: Die ganze Familie hat alle Hoffnungen auf die kühnen Flüchtlinge gesetzt, es sind die Besten, die Stärksten, die Klügsten, die mit dem stärksten Willen, und sie müssen es schaffen – um Geld zu schicken, um das Elend zu Hause zu mildern.

Auf einem Tatsachenbericht von Fabrizio Gatti fußt das Stück und Peter Höner hat im Auftrag der Landesbühne eine handwerklich solide Bühnenversion geschrieben. Aber Eva Lange, der die Uraufführung anvertraut wurde, hat eine fatale Entscheidung getroffen, als sie den meisten Schauspielern mehrere Rollen zugewiesen hat. Denn damit unterminierte die Regisseurin die wichtigste ästhetische Strategie von Gatti und Höner: den anonymen Flüchtlingen ein Antlitz zu geben. Stattdessen glitten die Schauspieler, für den Zuschauer unerkennbar, von einer Identität in die andere, wurden ununterscheidbar – Anteilnahme war so unmöglich. Oder gar das Gefühl: Das könnte dir auch passieren, wenn du das Pech gehabt hättest, außerhalb der Festung Europa geboren zu werden.

Und der Zuschauer wusste nie, wo die Handlung gerade spielte. Ausstatterin Diana Pähler hat auf die schwarz ausgehängte Bühne in Wilhelmshaven nur eine ebenfalls schwarze schiefe Ebene gebaut, die nach vorn abfiel – alles völlig abstrakt. Aber Gattis berührender Bericht gewinnt seine Kraft gerade daraus, die Abstraktion zum ganz Konkreten hin zu überwinden. Kurz vor Schluss wird auf der Bühne berichtet, welches Schicksal diese oder jene Figur bis heute hatte – keiner der Gestalten auf der Bühne war dieses Schicksal zuzuordnen.

Und phantasielos war die Regisseurin, auch was die Auswahl ihrer Mittel zur Anklage betraf. Die Gewalt der Polizisten, Soldaten und Schlepper zeigte sie, indem ein Schauspieler, stehend, neben einem anderen, liegend, einen Ledergürtel wie eine Peitsche niedersausen ließ. Nicht einmal, zweimal, das Arrangement wiederholte Lange immer wieder – allzu oft. Oder die Wichtigkeit des Wassers: Jeder führte einen großen Behälter mit sich. Sie waren, wie die Schlafsäcke, sauber, in Ordnung. Gut, dass die Flüchtenden zumindest nicht unter Schmutz, Dreck oder lebensgefährlichen sanitären Verhältnissen leiden.

Als Einziger wiedererkennbar war Sven Brormann, der Hauptrolle spielte: Fabrizio Gatti, den Journalisten. Er hatte als Einziger nur eine Figur zu verkörpern. Und hatte zwar brav seinen Text gelernt – aber dem Zuschauer war es unmöglich zu entscheiden, ob der Schauspieler meinte, Gatti sei ein Karrierist, der auf Kosten der Ärmsten eine Story suchte, oder ein engagierter Gegner der unmenschlichen Ausgrenzungspolitik unserer humanitären Wertegemeinschaft. Brormann wirkte wie ein ratloser Schauspieler auf der Suche nach seiner Rolle. Von den anderen Darstellern schweigt des Sängers Höflichkeit.

Ganz anders das kurze Programmheft, das Peter Hilton Fliegel (Dramaturgie) zusammengestellt hat und das in zwei knappen Aufsätzen das Problem aufreißt: ausgezeichnet und informativ. Er ist engagiert, nimmt Partei für die Entrechteten und findet den rechten Ton: „Wenn man bedenkt, dass ein knappes Viertel der italienischen und spanischen Wirtschaft von illegalen Arbeitern abhängt, dann erscheint die Migrationspolitik der EU … menschenverachtend.“

Diese Anklage ist der Regisseurin in der selbst angerichteten Unübersichtlichkeit verloren gegangen: Ein großartiges, engagiertes, ehrgeiziges Projekt der Landesbühne ist spektakulär gescheitert – mehr noch als an täppischen Schauspielern an einer überforderten Regisseurin.

■ Wilhelmshaven: Fr., 3.2., Mo, 6. 2., Mi, 15. 2., je 20 Uhr + So, 26. 2., 15.30 Uhr, Stadttheater; Gesprächsrunde mit Flüchtlingen am Mo, 6. 2., 18.30 Uhr im Oberen Foyer des Stadttheaters; Mi, 15.02.2012 / 20.00 Uhr So, 26.02.2012 / 15.30 Uhr; weitere Termine in Papenburg: Fr, 27. 1., 19.30 Uhr, Theater auf der Werft; Leer: Mi, 1. 2., 19.30 Uhr, Theater an der Blinke; Emden: Di, 14. 2., 20 Uhr, Neues Theater; Wittmund: Do, 16. 2., 20 Uhr, Aula Brandenburger Str; Jever: Fr, 17. 2., 20 Uhr, Theater am Dannhalm; Norderney: Di, 21. 2., 19.30 Uhr, Kurtheater; Esens: Di, 28. 2., 19.30 Uhr, Theodor-Thomas-Halle