Grauschleier auf Weißen Bussen

Unter Leitung des Grafen Folke Bernadotte evakuierten Busse des schwedischen Roten Kreuzes am 20. April 1945 mehr als 4.000 Skandinavier aus dem Konzentrationslager Neuengamme bei Hamburg. Die Nazi-Führer verlangten für die Rettungsaktion einen hohen Preis – und Bernadotte zahlte ihn

von Markus Flohr

Die Geschichte des schwedischen Grafen Folke Bernadotte und seiner Weißen Busse, die im März und April 1945 Zehntausende aus deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern retteten, schien bisher die einer reinen Heldentat zu sein: Auf den Tag heute vor 60 Jahren fuhren seine Busse von Neuengamme bei Hamburg aus nach Norden, nach Schweden, in die Freiheit, in den Frieden. An Bord saßen im Gros Dänen und Norweger, die in Lagern, über das gesamte Reichsgebiet verteilt, inhaftiert gewesen waren. In Schweden avancierte diese historische Erzählung zu einem wichtigen Baustein des nationalen Selbstbildes. Zu dem gehört wesentlich die Vorstellung, während des Zweiten Weltkriegs im Grundsatz neutral geblieben und allenfalls humanitär tätig gewesen zu sein.

Doch wenn in einer historischen Erzählung allzu klar bestimmt ist, was „richtig“ und was „falsch“ gewesen ist, und es zudem einen strahlenden Held gibt, so handelt es sich meist um eine Legende. Aufgrund neuer Untersuchungen ist in Schweden daher ein Historiker-Streit über die Rolle Bernadottes entbrannt. Und über die Zweideutigkeiten seiner Tat. Trägt sie, wie die Geschichtswissenschaftlerin Ingrid Lomfors resümiert, Züge „einer humanitären Katastrophe“?

Unbestritten ist, dass Bernadotte die Rettung möglich machte. Der Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes führte Verhandlungen mit Heinrich Himmler. Der erlaubte den Transport erst nach längeren Gesprächen, für die Bernadotte den „Reichsführer der SS“ im Frühjahr 1945 in den Heilanstalten Hohelychen in Nordbrandenburg mehrfach besuchte. Wie andere Naziführer wollte Himmler die „Aktion Bernadotte“ instrumentalisieren: Als Gegenleistung hätte sich Schweden für einen Separatfrieden mit den Westmächten einsetzen sollen.

Mitte März 1945 erreichen die ersten Bernadotte-Busse Hamburg. Sie werden auf Bismarcks altem Gut Friedrichsruh am Sachsenwald geparkt. Im Lager laufen unterdessen die Vorbereitungen für die Evakuierung an: Es muss Platz geschafft werden für die 4.000 Skandinavier, die aus Gefängnissen oder Lagern in ganz Deutschland abgeholt werden, deren Weg in die Freiheit über Neuengamme führt. Ein schwieriges Dilemma für Bernadotte und seine Fahrer: Um überhaupt jemanden retten zu können, müssen sie für die SS den Transport von mehr als 2.000 zum Teil schwerkranken französischen, russischen und polnischen Häftlingen übernehmen: Sie sind aus Neuengamme zu „entfernen“ und in andere Lager zu verbringen. Nach längerem Zögern willigt der Graf ein. Vom 27. bis 29. März 1945 beteiligen sich Mannschaft und Fahrzeuge des schwedischen Roten Kreuzes an zwei Transporten zu Außenlagern in Hannover und Braunschweig. In jedem Bus fahren zwei SS-Wächter mit.

Zu diesem Zeitpunkt waren im Konzentrationslager Neuengamme mehr als 14.000 Menschen inhaftiert. Täglich starben Dutzende, allein im Zeitraum von Januar bis März 1945 mindestens 6.200: Neuengamme hatte sich seit Herbst 1944 zu einem „Sterbelager“ entwickelt, in das die geschwächten und arbeitsunfähigen Häftlinge aus den Außenlagern gebracht und sich selbst überlassen wurden. Statt die Bedingungen zu verbessern, errichtete die SS ein zweites Krematorium. Häftlingsunterkünfte wurden in „Schonungsblocks“ umgewandelt. Die Menschen gingen in diesen vollgepferchten Räumen in großer Zahl elend zugrunde.

Der Norweger Odd Nansen war in Neuengamme inhaftiert, als die Busse kamen. Er beobachtete, wie seine französischen, russischen und polnischen Mitgefangenen im Glauben, gerettet zu sein, ihre letzten Kräfte sammelten: „In einer unsagbaren Freude und Hoffnung sahen sie die Weißen Busse im Lager stehen. Sie glaubten, sie würden mitfahren dürfen. Vielen war dieses Gefühl zu überwältigend, sie konnten die ungeheuerliche Hoffnung nicht aushalten. Sie sind buchstäblich vor Freude zusammengefallen und gestorben.“

Man lässt die Insassen des Schonungsblocks einsteigen und fährt los, ohne das Ziel mitzuteilen. Erst auf der Fahrt im Bus stellen die Häftlinge fest, dass sie nicht nach Norden, in die Freiheit, gebracht werden, sondern nach Süden. In einem der Busse bleiben die Häftlinge sitzen, als sie wieder aussteigen sollen.Etliche sterben während und wohl auch infolge der Transporte: „Von den Menschen, die wir nach Hannover verfrachtet haben“, berichtet der Fahrer Sten Olsson, „sind viele vielleicht nicht mehr am Leben, während ich diese Zeilen schreibe. So wie diese Menschen behandelt wurden, dürfte man in Schweden nicht einmal Tiere behandeln. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Wächter einen Häftling so hart auf den Kopf schlug, dass er niedersank. Dieser Häftling ist später in derselben Nacht in einem Bus umgekommen. Man behauptet, dass sieben Menschen gestorben sind. Ich war persönlich dabei und habe zwei Tote weggetragen.“

Nach diesen Transporten begannen die Busse dann, Dänen und Norweger zu sammeln und fuhren sie schließlich am 20. April gen Norden. Insgesamt brachten sie vor Kriegsende bis zu 20.000 Menschen nach Schweden. Bernadotte notiert später in seiner Autobiographie, die deutschen KZs seien die „verabscheuungswürdigste aller Schöpfungen des Dritten Reiches“ gewesen. Der Auslese unter den zu rettenden Häftlingen und den Verlegunstransporten im Auftrag der SS stimmte er trotzdem zu. Er konnte nicht anders: Die Nazis hatten sie zur Bedingung gemacht, andernfalls hätten die Busse leer zurückkehren müssen. Es war ein hoher Preis, der vom schwedischen Roten Kreuz gefordert wurde. Bernadotte zahlte ihn.

Nach dem Krieg erinnerte man sich in Schweden gern an den heroischen Einsatz der Busse, und ihr Initiator ist bis heute sehr bekannt und populär. Denkmäler sind ihm gewidmet. In ihrer Untersuchung „Blind fläck“ (Blinder Fleck) charakterisiert ihn die Historikerin Ingrid Lomfors dennoch als einen „Fisch, der nicht weiß, dass er in Wasser schwimmt“. So sei es ein Bruch mit den Statuten des Internationalen Roten Kreuzes gewesen, die Busse auch in den Dienst der Nazis zu stellen – „eine humanitäre Katatstrophe“, wie sie befindet. Die Vorab-Veröffentlichung dieser Thesen in der Tageszeitung Dagens Nyheter – das Buch erscheint im Mai – entfachte in Schweden eine heftige Debatte, in deren Verlauf sich der Bernadotte-Experte Sune Persson dazu verstieg, Lomfors „Ähnlichkeit mit Joseph Goebbels“ zu attestieren. Denn sie habe ein ähnliches Verhältnis zur Wahrheit wie der Nazi-Propagandaminister. „Das ist nicht einfach eine Übertreibung, sondern eine Beleidigung“, verwahrte sich die Wissenschaftlerin im Gespräch mit der taz gegen derartige Vorwürfe. Bei ihren Forschungen sei es nicht um das Bild Bernadottes gegangen, sondern „um die Geschichte dieser Menschen“, die vom Roten Kreuz so schmerzlich enttäuscht wurden. Ohne sie kann die Geschichte der Weißen Busse künftig nicht mehr erzählt werden – außer als Legende.