: Benedikt XVI. und die eingeschüchterten Westler
Früher waren wir Weltmeister, jetzt sind wir Papst – oder doch auf dem besten Wege, es zu werden: Anmerkungen über die Faszination der eigenen voraufklärerischen Wurzeln
Die Bild hat’s verfügt, seit gestern Morgen sind wir Papst. Wir in München ganz besonders. Die Münchener Boulevardblätter weichen in ihren Meldungen allerdings leicht voneinander ab: „Ein Bayer ist Papst“ (tz), „Ein Münchner ist Papst“ (AZ). Die Regensburger sagen: „Ein Regensburger ist Papst“, und ich habe gestern auch schon Österreicher sagen hören, sie seien jetzt Papst. Immerhin ist Benedikt XVI. in Marktl an jenem Inn geboren, der ein paar Kilometer weiter durch Braunau fließt, das bekanntlich österreichisch ist.
Als ich meinem achtjährigen Sohn erzählte, dass der neue Papst aus München kommt, machte er sofort die Säge, so wie ich in seinem Alter, als Deutschland Fußballweltmeister wurde. Dabei ist das Kind nicht einmal getauft. Er ist einfach in eine ganz andere Zeit hineingeboren. Früher waren wir Weltmeister, jetzt sind wir Papst. 482 Jahre ist es her, dass ein Deutscher Papst war, und so lange wird es wohl auch dauern, bis Deutschland wieder Weltmeister wird. Das Kind hat schon Recht, dass es sich umorientiert.
Bei mir war das ja noch ganz anders, ich war noch Ministrant in einer römisch-katholischen Kirche und habe dem einäugigen Dorfpfarrer auf Knien das Messbuch gehalten, bis zum Hals in Weihrauchschwaden. Unser Pfarrer, mein Hirte, hielt die Beat-Messen, die die Protestanten im Nachbardorf in ihrer Kirche veranstalteten, für ein Werk Satans. Und damit lag er, im Nachhinein betrachtet, wahrscheinlich gar nicht so falsch. Wie auch immer, vor diesem Hintergrund war es doch nur verständlich, dass ich fünf Jahre später mit der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend gegen Kirche und Kapital durch die Münchner Innenstadt zog.
Kardinal Ratzinger und Franz Josef Strauß bildeten Mitte der Siebziger das pechschwarze Traumduo der katholischen Reaktion mit Hauptsitz in Freising und München. Doch während sich Strauß 1980 als „Kandidat“ im Wahlkampf ganz allein gegen die Roten, also praktisch die Russen, aufrieb, verabschiedete sich Kardinal Ratzinger in die Verliese des Vatikan und wurde als Leiter der Glaubenskongregation zum Großinquisitor. Dort wirkte er über Jahrzehnte im Hintergrund, und jetzt tritt er vor uns, überlebensgroß als Benedikt XVI.
Alles hat sich verändert in den vergangenen 25 Jahren. Franz Josef Strauß ist tot, sein Sohn Max sitzt im Gefängnis, seine Schwester, von allen Ämtern zurückgetreten, ist auf dem besten Weg dorthin, der Eiserne Vorhang ist gefallen, die Russen sind längst nicht mehr das, was sie einmal waren, und dann ist zwischenzeitlich auch noch der 11. September passiert. Vor sechs Tagen wurden bei einer Großrazzia im Islamischen Zentrum in Freimann bei München ein Tunesier und ein Ägypter festgenommen, die den Attentätern von New York das Geld beschafft haben sollen. Nachrichten wie diese schüren die Ängste nicht nur des Münchener Westens, und auch wenn wir uns beeilen, zwischen gemäßigten und radikalen Moslems zu unterscheiden, beneiden wir die einen und fürchten wir die anderen, weil sie bereit sind, für Werte zu leben und zu sterben, die wir noch nicht einmal begreifen.
Da liegt es natürlich nahe, sich der voraufklärerischen Wurzeln der eigenen Kultur zu erinnern und zu deren ursprünglichen Glaubenspositionen zurückzukehren. In Benedikt XVI. haben wir einen Fundamentalisten, der uns erklärt, die Jungfrauengeburt und die Auferstehung Christi seien ebenso wenig Sinnbilder wie Gott eine Idee. Die Bibel sei in diesen Dingen wörtlich zu nehmen und keineswegs nur ein Sammelsurium unverständlicher Metaphern. Gegen diese Entschiedenheit tun sich überraschenderweise gerade jene Überzeugungen schwer, die sich selbst für kritisch, aufklärerisch und deshalb zeitgemäß halten und es vielleicht auch einmal waren.
Auffällig viele der in Glaubensfragen engagierten älteren Leute, die von den Fernsehjournalisten zur Papstwahl befragt wurden, bedauerten, dass Ratzinger „so konservativ“ sei, um dann die bekannten Einwände vorzubringen: Verhütung, Schwangerschaftsberatung, Zölibat. Für die Jüngeren hingegen scheint im Augenblick die größere Faszination von der Tatsache auszugehen, dass der Papst Haltungen repräsentiert, die vielleicht aus früheren Jahrhunderten stammen, aber gerade in ihrer gegenaufklärerischen Entrücktheit dem eingeschüchterten Westler etwas bieten, woran er sich halten kann. So gesehen sind wir noch nicht ganz Papst, aber wohl auf dem besten Weg, es zu werden. GEORG M. OSWALD
Der Autor ist Schriftsteller und lebt in München. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Im Himmel“ (Rowohlt Verlag)