: Für ein paar Tausend Euro mehr
KONSUMSUCHT Eine eingebildete Herzkrankheit und pathologisches Kaufverhalten veranlassen einen Mitarbeiter einer Krankenkasse, fast eine halbe Million Euro zu veruntreuen. Ohne seine Selbstanzeige wäre es nie aufgefallen
VON JAN ZIER
T. ist einer, den sie alle als „netten Kollegen“ beschreiben. Als einen, mit dem man gut mal ein Bier trinken gehen kann, der „immer hilfsbereit“ ist, „zuvorkommend“, „vernünftig“. Und „fachlich versiert“. Die Charakterisierungen, sie wiederholen sich, je mehr ehemalige Kollegen in den Zeugenstand gerufen werden. In einer Kontaktanzeige würde der 37-Jährige sich vermutlich als „ganz normal“ und „tageslichttauglich“ beschreiben, als jemand, der „voll im Leben steht“, und, nun ja, „etwas einsam“ ist.
Über drei Jahre hinweg bereicherte sich der Sozialversicherungsfachangestellte T. an seinen Kollegen vorbei um exakt 455.632 Euro und sieben Cent.
Juristen nennen so etwa Untreue in einem besonders schweren Fall, und darauf stehen bis zu zehn Jahre Gefängnis. Der Staatsanwalt fordert drei Jahre. T. kommt vor dem Amtsgericht Bremen mit einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren davon. „Es ist ein äußerst ungewöhnlicher Fall“, sagt die Richterin, einer, der ein besonders „mildes Urteil“ rechtfertige.
Es wäre vermutlich nie jemand aufgefallen. Nicht in der Betriebskrankenkasse des namhaften Bremer Rüstungskonzerns, nicht den drei externen Prüfern, die in all den Jahren die Konzern-Bücher geprüft haben. T. wäre also straffrei ausgegangen, und die Verjährungsfrist hätte schon bald ihr übriges dazu getan. Demnächst stünde eine Beförderung zum Teamleiter an, zum Personalrat hatten sie ihn ja schon gewählt.
Doch die bürgerliche, so ganz und gar durchschnittliche Existenz, sie liegt in Scherben. Sein Leben wird eines sein, das sich stets unterhalb der Pfändungsfreigrenze von derzeit 999 Euro abspielt. „Er hat den steinigen Weg gewählt“, sagt sein Anwalt. Viele seiner ehemaligen Kollegen können das bis heute nicht recht verstehen. Auch der Anwalt zunächst nicht.
„Es waren die schlimmsten drei Jahre meines Lebens“, sagt T. vor Gericht, auch, nein: gerade weil es am Geld in dieser Zeit nie mangelte. T. war konsumsüchtig.
So recht konnte er nie mit Geld umgehen, häufte schon früher gut 40.000 Euro Schulden an, eines zu teuren Autos wegen. Andererseits verdiente er ja auch ganz gut, zuletzt 3.500 Euro brutto, zuzüglich Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Da fragt keine Bank lange nach. Er war jung und bekam das Geld.
Und er wollte sich ja noch was gönnen. Denn T. fürchtete um sein Leben. Mit einem Ohnmachtsanfall fing alles an, 2005 war das, weitere kamen hinzu. Ärzte wurden konsultiert. Sie schrieben Befunde, fanden aber keine Erklärung. Also bastelte sich T. selbst eine. Und sie lag – scheinbar – so nahe. In der Familie T. häuft sich der plötzliche Herztod, ein angeborener Herzklappenfehler. Ein plausibler Zusammenhang. Todesangst kommt auf. Er würde ein neues Herz brauchen, so viel stand für ihn fest, „felsenfest“, wie er vor Gericht immer wieder sagt. T. schafft sich ein Vitaphon an, ein Handy speziell für Herzkranke. Und wird Mitglied in der Deutschen Herzstiftung, erzählt seinen Kollegen, dass er auf einer Warteliste für ein Spenderherz steht. Anvertrauen konnte er sich ihnen nie, nur Signale aussenden, dass er alles im Griff hat. „Frauen quatschen sich das eher von der Seele“, sagt die Richterin. T. kann das nicht.
Die Furcht, aus der nächsten Bewusstlosigkeit nicht wieder aufzuwachen, bestimmt sein Leben. Immer wieder stockt der Vortrag, die Stimme erstickt in Tränen. „Es gab keine Zukunft mehr.“ Dabei hatte er doch so viel vor. Das kleine Vermögen wird geplündert, weit reicht das Geld nicht, die Beschaffungskriminalität beginnt. Der Staatsanwalt nennt es „extreme Geldgier“.
T. gründet eine Briefkastenfirma, eröffnet ein Geschäftskonto bei einer renommierten Bremer Privatbank, fängt an, fiktive Beitragserstattungen seiner Betriebskrankenkasse abzuzweigen. „Es war total simpel“, sagt T., „wie wenn man zum Bankautomaten geht“. Inzwischen hat T. wieder einen kleinen Job, zahlt pro Monat 304 Euro zurück. Um 585.612 Euro abzustottern.
„Das war perfekt aufbereitet“, sagt auch sein früherer Abteilungsleiter. „Das konnte man so schnell nicht sehen.“ Das konnte nur einer, der an genau dieser Stelle des Systems Krankenkasse sitzt, sagen andere. Das Vier-Augen-Prinzip versagt, im Stress, vielleicht, und weil man ihm ja ansonsten doch vertrauen konnte. Ein Controlling findet nicht statt. Dass verschiedene Firmen unter derselben Kontonummer auftauchen, fällt dem Computer nicht auf. „Die halbe Republik arbeitete mit diesem System“, sagt der smarte Abteilungsleiter. „Da müssen sich auch andere Kassen ihre Gedanken machen“. Nein, inzwischen läuft alles anders, versichert er, und aus dem Vier- wurde ein Sechs-Augen-Prinzip. „Heute wäre das bei uns nicht mehr möglich.“ Und für den finanziellen Schaden kommt jetzt die Versicherung der Versicherung auf.
Bis zu 72.000 Euro ließ sich T. auf einen Schlag überweisen, keine unübliche Summe für eine Beitragserstattung, sagen die Sozialversicherungsfachangestellten. Ganz große Sachen schafft er sich nie an, es hätte sich ja nicht mehr gelohnt. Nun gut, da war ein neuer Audi A4, das war auch den Kollegen aufgefallen, ebenso wie die schicken Anzüge, die er im Büro oft trug. Aber irgendwie hatte er immer eine Erklärung, mit der sie zufrieden waren. Und von seinen Städtereisen nach Berlin, nach Paris, zu Freunden nach Stuttgart, vom USA-Urlaub, da hat er ihnen nie viel erzählt. Am Ende fallen sie „aus allen Wolken“. 15.000 Euro verkonsumiert T. jeden Monat, rechnet der Staatsanwalt vor. Zweimal täglich geht er essen, auch mal im Hotel Adlon, abends shoppen: Schuhe, Krawatten, Hemden, technische Gerätschaften, die bisweilen umgehend auf der Deponie landeten.
Als schließlich die Gewissheit schwindet, bald tot umzufallen, ist es zu spät. Das Hamsterrad des Konsums, der Teufelskreis der Abhängigkeit dreht sich weiter. Er kauft mehr, um sich zu betäuben. „Nur nicht nachdenken!“ Eine sehr „moderne Problemlösung“, sagt die Richterin.
Drei Jahre wird es dauern, ehe der einstige Messdiener sich erst einem katholischen Pfarrer anvertraut, dann, abends auf der Terrasse, dem Chef beichtet. Es folgt die Selbstanzeige, eine Therapie. Und der Wiedereintritt in die Kirche. „Sehr regelmäßig“ ist er da, sagt T. „Aus Dankbarkeit.“