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Archiv-Artikel

Knallende Korken

Kurt Röttgen, Chefredakteur der Münchner „Abendzeitung“, musste gehen. Die Redaktion freut’s

162.871. Diese Zahl bedeutete das Ende für Kurt Röttgen, 60, Chefredakteur der Münchner Abendzeitung (AZ). Anfang dieser Woche gab der Geschäftsführer des Münchner Boulevardblatts, Christoph Mattes, in knappen Worten den Abgang des leitenden Mitarbeiters bekannt, der die Zeitung im Oktober 2000 übernommen hatte. Damals verkaufte das traditionell linksliberale Blatt noch mehr als 180.000 Exemplare am Tag, doch die Auflage stagnierte unter Röttgens Führung. Als am vergangenen Wochenende die Zahlen für das erste Quartal 2005 veröffentlicht wurden, lautete das Ergebnis: 162.871. 2004 waren es noch fast 17.000 verkaufte Zeitungen mehr gewesen.

Nach Bekanntgabe der Zahlen soll es mit Röttgens Abgang sehr schnell gegangen sein. Praktischerweise befand sich der Chefredakteur zu diesem Zeitpunkt gerade im Urlaub, den er nun auf unbegrenzte Zeit verlängern kann. In der Redaktion weint ihm kaum jemand eine Träne nach. Der Betriebsrat veröffentlichte prompt einen Brief, in dem er bekundete, „die Entscheidung mit Blick auf die Motivation der Mitarbeiter und die Entwicklung der Auflage“ vollauf zu unterstützen. Intern werden Redakteure deutlicher: „Es haben die Sektkorken geknallt.“

Denn Röttgen hatte, nachdem er eine Entlassungswelle zu Beginn seiner Amtszeit widerspruchslos hingenommen hatte, zunehmend versucht, die seit Jahren kriselnde AZ verstärkt auf Krawall zu bürsten. Doch das kam, wie Erhebungen zeigten, gerade bei den gebildeteren und kaufkräftigen Lesern überhaupt nicht an. Schließlich bestand das Geheimnis des 1948 – zuerst unter dem Namen Die Tageszeitung – gegründeten Blattes darin, die üblichen Boulevardthemen mit einem für das Genre verblüffend anspruchsvollen Feuilleton und einer seriösen Politikberichterstattung zu kombinieren. Was auch dazu führte, dass die Zeitung um die 50.000 Exemplare nicht am Kiosk, sondern im Abonnement absetzt.

Trotz des hörbaren Aufatmens in der Redaktion bleibt die Zukunft der Abendzeitung unklar. Alle regionalen Boulevardblätter in Deutschland kämpfen mit anhaltend sinkenden Auflagen, wobei in München allerdings im Gegensatz etwa zu Hamburg oder Berlin weniger die Konkurrenz der übermächtigen Bild eine Rolle spielt – denn die Regionalausgabe liefert mit knapp 132.000 verkauften Exemplaren das schlechteste Resultat aller fünf Münchner Zeitungen. Der AZ-Betriebsratsvorsitzende Reinhold Dörrzapf findet angesichts dieser Zahlen, „dass die Abendzeitung dann eine Chance hat, wenn sie witzig, frech, originell und im Zweifelsfall links ist, gegen die Obrigkeit“. So wie früher eben. JÖRG SCHALLENBERG