piwik no script img

Archiv-Artikel

„Die Türkei ist heute rückständiger, als es ihr Gründer Atatürk war“, sagt Taner Akcam

Es ist an der Zeit, dass die Türken den Völkermord an den Armeniern anerkennen und die Opfer entschädigen

Herr Akcam, sie schreiben im Vorwort ihres Buches „Armenien und der Völkermord“, dass die Morde und Vertreibungen im Osmanischen Reich 1915 historisch und juristisch wesentlich ungeklärter seien als der Holocaust. Was unterscheidet beide Ereignisse?

Taner Akcam: Ich wollte auf den Unterschied aufmerksam machen, wie die Ereignisse von 1915 und der Holocaust von heute aus betrachtet werden. Wenn jemand heute behauptet, der Holocaust habe nicht stattgefunden, kann er strafrechtlich verfolgt werden. Das trifft auf die Geschehnisse von 1915 nicht zu. Ich sage damit, dass die seit 90 Jahren andauernde Politik der Leugnung teilweise erfolgreich ist. Zudem unterscheidet den Holocaust vom Völkermord an den Armeniern, dass der Holocaust ein Ergebnis der rassistischen Ideologie war, während der Völkermord aus nationalistischen Gründen, aus Angst, einen Teil seines Territoriums zu verlieren, verübt wurde.

Der Mord an den Armeniern soll die Reaktion auf die Vertreibung und Ermordung von Muslimen auf dem Balkan gewesen sein. Reagierte der türkische Nationalismus also auf den Nationalismus der christlichen Balkanvölker?

1915 ist nicht einfach eine Reaktion. Es ist das Resultat einer rationalen Entscheidung, dass nach den Niederlagen in den Balkankriegen 1912/13 kein Zusammenleben mit Christen mehr möglich sei. Die damals regierende „Partei für Einheit und Fortschritt“ hat beschlossen, dass in Anatolien eine ethnisch homogene türkisch-muslimische Bevölkerung leben sollte. Bei dieser Entscheidung und den Ereignissen von 1915 haben die Verluste auf dem Balkan eine wichtige, aber keineswegs entscheidende Rolle gespielt. Ich halte es für falsch, den Völkermord unmittelbar kausal aus den Balkankriegen abzuleiten.

Ging es also bei der Vertreibung, der Ermordung und der Deportation der Armenier vor allem darum, das anatolische Kerngebiet aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches für die Etablierung einer eigenen türkischen Republik zu retten?

In diese Richtung gab es in den ersten Jahren nach der Gründung der Republik unter den Staatsgründern Stellungnahmen. Sie besagten, dass „es für den türkischen Staat notwendig war, die Armenier 1915 aus Anatolien zu vertreiben und zu ermorden“, aber später hat es diese Äußerungen nicht mehr gegeben.

Wie beurteilen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk?

Wir besitzen kein Dokument über eine direkte Beteiligung von Mustafa Kemal an den Vorfällen. Aber es gibt viele Dokumente, in denen er das, was mit den Armeniern gemacht wurde, als „Massaker“ oder „schlimmes Ereignis“ bezeichnet. Meiner Meinung nach ist die Haltung der Türkei heute viel rückständiger als die Position ihres Gründers. Wenn sie die Position von Atatürk als einen Anfang nehmen könnte, wäre dies ein wichtiger Schritt zur Lösung des Problems. Die Position von Atatürk ist ein guter Ausgangspunkt.

Wenn denn die Türkei den „Völkermord“ anerkennt, in welcher Form soll dies Ihrer Meinung nach geschehen

Erstens durch eine moralische Anerkennung des Unrechts an den Armeniern – und zweitens durch einklagbare Entschädigungen. Um eine Anerkennung von territorialen Forderungen kann es hingegen nicht gehen, denn nach internationalem Recht hält die Türkei kein Stück armenischen Landes besetzt. Am Anfang muss auf jeden Fall die Anerkennung einer historischen Ungerechtigkeit stehen. Es hängt vollkommen von den Gesprächen der beiden Seiten ab, in welcher Form die Geschädigten kompensiert werden, um dieses Unrecht aufzuheben. Es mag Leute geben, die eine Entschuldigung für ausreichend halten, aber auch Leute, die es nicht für ausreichend halten. Das eigentliche Prinzip besteht darin, dass die Geschädigten die Schritte für eine Beseitigung des ihnen geschehenen Unrechts als ausreichend empfinden. Auf der anderen Seite darf Entschädigung nicht zu neuem Unrecht führen. Vorrangig ist es notwendig, einen Fehler in moralischer Hinsicht zu akzeptieren.

Das türkische Parlament hat in einer Entschließung die Einrichtung einer armenisch-türkischen Historikerkommission gefordert. Halten Sie das für eine Möglichkeit, zu einer Lösung zu kommen?

Im Endeffekt müssen die beiden Seiten natürlich miteinander reden. Eine Art des Redens und ein Weg zur Lösung kann eine solche Historikerkommission sein, aber dazu gibt es eine wesentliche Voraussetzung: Erst einmal muss akzeptiert werden, dass Unrecht geschehen ist. Falls die Türkei eine Kommission akzeptiert, in die sie sich nicht einmischt, also etwa eine von der Europäischen Union bevollmächtigte Kommission, und wenn sie zudem deren freies Arbeiten unter Bereitstellung ihrer eigenen Mittel fördert, dann könnte das ein positiver Schritt sein.

INTERVIEW: JÜRGEN GOTTSCHLICH