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Archiv-Artikel

Dritter Weg, dritte Chance?

SYSTEMWECHSEL „Wir brauchen eine neue soziale Architektur“: Ein Denklabor am Bodensee wirbt für mehr direkte Demokratie

Ausgerechnet den Anthroposophen fehlt in politischen Dingen bisher ein ganzheitlicher Ansatz

VON RADO KAMINSKI

Dieser Aufruf richtet sich an alle Menschen des europäischen Kulturkreises. Es geht um den Durchbruch in eine soziale Zukunft.“ Die Weihnachtsbeilage der Frankfurter Rundschau im Jahr 1978 hatte es in sich. Sie enthielt einen mehrseitigen „Aufruf zur Alternative“, als dessen Autor Joseph Beuys firmierte. Einmal im Jahr überließ das liberale Blatt einem Künstler mehrere Seiten zur freien Gestaltung. Der eigenwillige Schöpfer von Filz- und Fettecken schenkte der Rundschau jedoch keinen Kunstdruck, sondern lieferte augenzwinkernd eine höchst konkrete „soziale Plastik“ in Textform.

Beuys plädierte darin für den Dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus. „Zwei Strukturelemente stellen die eigentliche Ursache der ganzen Misere dar: Das Geld und der Staat“ konnte man da etwa lesen. Das richtete sich gleichermaßen gegen Ost wie West. Statt Apparatschiks und Kapitalisten sollte Solidarität und Menschlichkeit endlich wieder zum Maß aller Dinge werden.

Auf halber Strecke zwischen 1968 und dem Wendejahr 1989 war das Manifest zugleich der wohl größte anthroposophisch inspirierte Mediencoup der Pressegeschichte. Der Dritte Weg, für den hier geworben wurde, wurzelte in Rudolf Steiners Dreigliederungstheorie des sozialen Organismus.

Ginge es nach Wilfried Heidt, damals Koautor des „Aufrufs zur Alternative“, wäre es höchste Zeit, Steiners Forderung nach „Freiheit im Geistesleben, Gleichheit im Rechtsleben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben“ wieder öffentlich zu diskutieren. „Mit dem bisherigen System sind wir beim Bankrott gelandet, wir brauchen einen neuen Geldbegriff, wir brauchen eine ganz neue soziale Architektur. Alle bisherigen Vorschläge treffen nicht den Kern des Problems.“

Heidt ist – wenn es so etwas gibt – der Rudi Dutschke der anthroposophischen Bewegung in Deutschland. Als Student in Basel begeisterte er sich in den Sechzigerjahren für Steiners organischen Gesellschaftsentwurf, lernte aber durch den Einfluss des Philosophen Karel Kosik auch die Reformideen des Prager Frühlings zu schätzen. Heidt beteiligte sich zusammen mit Peter Schilinski an der Gründung von republikanischen Clubs und dem oppositionellen Verein „Demokratische Union“: „Eine Demokratie ohne Millionäre und ohne Funktionäre“ war die Devise. Doch gegen die Politprofis vom SDS konnte man sich mit dem eigenen Ansatz für einen „freien demokratischen Sozialismus“ nicht durchsetzen.

Mit Gleichgesinnten baute Heidt in den Siebzigerjahren das Internationale Kulturzentrum in Achberg am Bodensee auf und verfolgte die Idee des Dritten Weges weiter. „Wir haben damit Ansätze aufgegriffen, die von der anthroposophischen Bewegung bisher vernachlässigt wurden“, so Heidt rückblickend.

Andere assoziieren beim Thema Anthroposophie Dinge wie neue pädagogische Konzepte, alternative Heilmethoden oder biologisch-dynamische Landwirtschaft. Im Achberger Denklabor werkelt man vor allem am Weg zur konkreten Veränderung. Und das ist für Heidt und seine Mitstreiter die direkte Demokratie. Die habe allerdings durchaus sehr viel mit dem anthroposophischen Gedanken zu tun: „Volksgesetzgebung als Gegengewicht zum Parlamentarismus, diese Linie zieht sich von der frühen Arbeiterbewegung über Steiners Sozialimpuls bis in unsere Gegenwart“, so Heidt.

Tatsächlich konnte sich Rudolf Steiner ein alternatives Wirtschaftsleben vorstellen, das durch Arbeiter- oder Betriebsräte kontrolliert würde. Nicht umsonst formulierte er seine gesellschaftspolitischen Vorstellungen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als revolutionäres Gedankengut auch unter Anthroposophen diskutiert wurde. An einen bürokratischen Sozialismus, der von oben herab regiert, dachte Steiner freilich nicht. Die von ihm benutzte Formel „Freiheit, Demokratie, Sozialismus“ richtete sich viel eher auf freie Assoziationen zwischen demokratisch verfassten Arbeitskollektiven. Zumindest theoretisch.

In der Praxis hielten sich nicht nur Steiner selbst, sondern auch viele seiner Weggefährten deutlich zurück. Sie setzten eher darauf, dass ihre Ideen von den Menschen selbstständig erkannt und übernommen wurden. Dass sich daran schließlich doch noch etwas änderte, lag an Wilfried Heidt und seinen Mitstreitern. Sie begannen, Steiners Dreigliederungstheorie vom Kopf auf die Füße zu stellen.

Während die meisten Anthroposophen sich weiterhin über Steiners Schriften den Kopf zerbrachen, entwarfen die Achberger nun ein Programm für die Revolution von oben, nämlich durch die Änderung des Grundgesetzes. Der Souverän, also das Volk, sollte wieder zum kreativen Gestalter werden, von der außerparlamentarischen Gesetzesinitiative bis zum bindenden Volksentscheid. Damit wäre schließlich auch der Weg frei, neue Formen der „Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben“ zu beschreiten. Fast hätte man Anfang der Achtzigerjahre die frisch gegründeten Grünen von der direkten Demokratie überzeugt. Doch als es um das erste Bundestagswahlprogramm ging, war die Idee schnell vom Tisch.

„Zwei Strukturelemente stellen die Ursache der ganzen Misere dar: Das Geld und der Staat“

Die Achberger machten wieder auf APO, und das mit Erfolg. Als man 1983 im Rahmen einer Petition an den Bundestag mit Zeitungsanzeigen um Unterstützung warb, kamen Zehntausende Unterschriften zusammen. Die Petition wurde sogar im Plenum beraten – und dann ad acta gelegt: die repräsentative Demokratie ließ grüßen. Die Achberger machten weiter. An einer selbst organisierten Volksabstimmung im Jahr 1989 mit Hilfe von „Wahlbriefen“ nahmen Hunderttausende Bundesbürger teil. Mittlerweile nutzt man längst E-Mails und Internet für die Kampagnen in Sachen direkter Demokratie.

Doch die „Gesamtmetamorphose“ des sozialen Organismus Bundesrepublik gestaltet sich zäh. Selbst wenn angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise viel von „Systemrelevanz“ geredet wird, bleibt die Frage der Systemalternative ungestellt. Die Anthroposophen sind offenbar nicht die Einzigen, denen in politischen Dingen der ganzheitliche Ansatz fehlt.

Eine Online-Petition für das bedingungslose Grundeinkommen konnte im Frühjahr mehr als 50.000 Unterstützer hinter sich bringen. Eine Online-Petition der Achberger zum Thema Volksabstimmungen dagegen keinen einzigen. Südlich des Bodensees ist man da schon weiter. Im Mai gab es in der Schweiz eine Volksabstimmung zum Thema alternative Heilmethoden. Zwei Drittel der Wähler stimmten dafür, auch die anthroposophische Medizin in der Bundesverfassung zu verankern.

Auf europäischer Ebene konnte die Aktion Eliant, eine Initiative zum Erhalt alternativer Ansätze in Landwirtschaft, Medizin und Pädagogik, fast eine Million Unterschriften sammeln. Das ist die Schwelle, die im Vertrag von Lissabon für ein Volksbegehren auf europäischer Ebene vorgesehen ist. Die Sache hat nur einen Haken: Die geänderte EU-Verfassung ist noch nicht in Kraft getreten – Schuld ist ausgerechnet eine Volksabstimmung. In Irland stimmten die Bürger, als man sie nach ihrer Meinung fragte, bekanntlich mit „No“.