: „Ideologische Scheuklappen“
VORTRAG Rolf Gössner kritisiert den Verfassungsschutz als demokratie-widrig
■ 63, Anwalt, Publizist und seit 2007 Richter am Landesverfassungsgericht. Von 1970 bis 2008 beobachtete ihn der Bundes-VS.
taz: Herr Gössner, der Titel Ihrer Veranstaltung ist trotz Fragezeichens wohl eher eine Behauptung…
Rolf Gössner: Wie lautet sie noch mal genau?
„Der Verfassungsschutz – eine Gefahr für den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat?!“
Nun, die geheimen Strukturen des Verfassungsschutzes (VS) widersprechen den demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit. Über seine V-Leute etwa verstrickt er sich zwangsläufig in kriminelle Machenschaften.
Inwiefern?
Die bezahlten V-Leute sind hartgesottene Neonazis, gnadenlose Rassisten und Gewalttäter – sie beobachten nicht bloß. Der VS schützt sie mitunter gegen Ermittlungen der Polizei, schottet sie ab, unterdrückt Beweise.
Trägt der VS Mitschuld an der Neonazis-Mordserie der „NSU“?
Von Mitschuld zu sprechen, ist sicherlich noch ein wenig zu früh. Aber angesichts dieses Nicht-Ermittlungs-Skandals und der Ausblendung des rassistischen Hintergrunds ist kaum von Unfähigkeit oder Pannen zu sprechen, sondern von ideologischen Scheuklappen, von systematischer Verharmlosung des Nazi-Spektrums. Über das V-Leute-Netz hat er die Nazi-Szene letztendlich mitfinanziert.
Bremens VS-Chef, Joachim von Wachter, sprach davon, der VS sei „Baustein der antifaschistischen Bewegung“.
Die Antifa wird sich bedanken. Dort wirbt er Leute an, um sie zu bespitzeln. Das passt nicht zusammen.
Wie soll sich eine Demokratie ohne VS verteidigen?
Zunächst ist es Sache der Bürgerinnen und Bürger, für die Verfassung einzutreten. Ansonsten haben wir genügend Sicherheitsorgane, die bei konkreten Gefahren einzuschreiten haben – aber nicht auf die dubiose Weise, wie es der VS tut. Vor was hat der uns denn je gerettet?
Das bleibt wohl geheim.
Eben, und das ist gerade die Bredouille. Ohne VS hätten wir eine Gefahr weniger.
Nehmen Sie mit Ihrer Kritik auch persönlich Rache?
Nein, ich hatte die Kritik schon längst, bevor ich wusste, dass ich beobachtet werde. Mir wurde ja eine „Kontaktschuld“ vorgeworfen, wegen beruflicher Kontakte zu angeblich linksextremistischen Gruppen. 2011 wurde das vom Gericht als grundrechtswidrig eingestuft.
Rechnen Sie mit einer Beobachtung Ihres heutigen Vortrags?
Ich gehe davon aus. 2008 ist meine Beobachtung nach fast vierzig Jahren eingestellt worden – offiziell zumindest. Aber nachprüfbar ist das leider nicht. Interview: JPB
19 Uhr, Villa Ichon