piwik no script img

„Das war das Wasser?“

STURMFLUT 1962 Frauke Paech und Margret Markert von der Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg organisieren eine Reihe zum 50. Jahrestag der Sturmflut von 1962

Margret Markert

■ 59, leitet seit 20 Jahren die Geschichtswerkstatt in Wilhelmsburg.

INTERVIEW DARIJANA HAHN

taz: Am nächsten Donnerstag jährt sich die Sturmflut von 1962 zum 50. Mal. Welche Geschichte verbinden Sie mit dieser Naturkatastrophe, Frau Markert und Frau Paech?

Margret Markert: Ich bin zum ersten Mal wieder bewusst mit der Sturmflut in Berührung gekommen, als ich vor 20 Jahren die Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg aufgebaut habe. Beim Sammeln von Material zur Stadtteilgeschichte habe ich ganz oft die Antwort bekommen: Nee, wir haben nichts mehr. Ist alles bei der Flut vernichtet worden, oder weggeschwommen. Es ist nichts mehr da.

Frauke Paech: Für mein Dissertationsprojekt habe ich 2003 angefangen, zu dem Thema zu forschen. Motivation war die Frage, weshalb ich zwar viel über die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg in Hamburg erfahren kann, aber die Sturmflut von 1962 im kollektiven Bewusstsein der Stadt weit weniger präsent zu sein scheint. Mich hat vor allem die Frage interessiert, welche Bedeutung das Ereignis für die damals betroffenen Menschen heute hat.

Können Sie diese Bedeutung beschreiben?

Paech: Ein Aspekt ist die Ortsbezogenheit. Die gemachten Erfahrungen verstärken das Heimatgefühl sozusagen. Und auch wenn Menschen weggezogen sind, haben sie nach wie vor eine sehr enge Beziehung zu diesem Stadtteil, die durch das einschneidende Ereignis sogar gefördert wurde.

Haben Ihnen die Menschen gerne von der Sturmflut erzählt?

Paech: Ich bin auf Leute getroffen, die ein spürbares Interesse daran hatten, mir ihre Erlebnisse zu erzählen. Dieses Ereignis ist etwas, was die Menschen nach wie vor beschäftigt und das, anders als wir es beispielsweise von Kriegserzählungen kennen, nicht tabuisiert ist. Ich habe mit Menschen gesprochen, denen es heute ökonomisch besser geht als damals, als sie beengt in Behelfsheimsiedlungen oder in unsanierten Altbauwohnungen lebten. Es sind Erfolgsgeschichten. Hierin spiegelt sich auch ein Stück Wiederaufbaugeschichte wider.

Wie begehen Sie den 50. Jahrestag der Sturmflut?

„Dass am Ort des Geschehens viel passiert, nehmen die Menschen als Würdigung wahr“

Mit Fotoausstellungen im öffentlichen Stadtraum möchten wir die Menschen erreichen, die heute in Wilhelmsburg leben und nichts von dieser Geschichte wissen. Dieser Weg führt insbesondere über die Kinder im Viertel. Daher kooperieren wir mit Schulen, organisierten Schülerworkshops mit Zeitzeugenbefragungen, eine Schreibwerkstatt zum Thema, immer mit dem Bezug zum damaligen Geschehen.

Wie haben sich die Schüler mit der Sturmflut auseinandergesetzt?

Markert: Die 8. Klasse der Stadtteilschule hat sehr praxisorientiert gearbeitet: Schüler haben sich mit dem Deichbau beschäftigt. Am Ende des Projekts sind die Jugendlichen als „Hochwasserscouts“ ausgebildet, die andere über Konsequenzen einer Sturmflut und den Katastrophenschutz informieren können. Die Sechstklässler des Gymnasiums haben zusammen mit den Ohrlotsen des Stadtteilzentrums Motte kleine Audio-Features hergestellt. Dafür haben wir Zeitzeuginnen eingeladen, die die Flut als Kinder erlebten. Interview-Ausschnitte haben die Kinder dann als Szenen akustisch nachgespielt. Richtige Doku-Dramen sind so entstanden.

Wo kann man diese Doku-Dramen hören?

Markert: Auf der Website der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt (BSU), www.sturmflut.hamburg.de, gibt es neben Zeitzeugenberichten, Damals-Heute-Foto-Überblendungen und einer Chronik der Ereignisse eine interaktive Karte: Da gibt es verschiedene Symbole für Foto, Audio und Text. Klickt man zum Beispiel die Kleingartensiedlung „Brummerkaten“ an, bekommt man diese kleinen Hör-Doku-Dramen zu hören.

Was haben die Jugendlichen zu dem gesagt, was sie über die Flut erfuhren?

Markert: Für viele war das wie eine Reise in eine ganz andere Zeit. Ein Mädchen konnte es nicht glauben, als es auf einem Foto die verbogenen Straßenbahnschienen am Spreehafendeich sah. Das soll das Wasser gemacht haben?

Frauke Paech

■ 45, ist Volkskundlerin und untersucht, welche Bedeutung die Sturmflut für die Menschen heute hat. Ihr Dokumentarfilm „Flut 1962 – Erinnern. Gedenken. Erzählen“ wird in den kommenden Wochen mehrfach gezeigt.

Woher kam das meiste Wasser?

Paech: Der größte Deichbruch war am Spreehafendeich. Die meisten der 207 Wilhelmsburger Todesopfer gab es in der unmittelbar gegenüber liegenden Kleingartensiedlung, in der sich die Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg behelfsmäßig wieder eingerichtet hatten.

Mit welchen Gefühlen gehen die Zeitzeugen diesem Jubiläum entgegen?

Markert: Es ist für die Menschen ein Anlass, sich wieder zu begegnen und sich zu treffen. Sie finden es gut, dass am Ort des Geschehens nun so viel passiert. Sie nehmen es als Würdigung wahr.

■ Bis Ende Februar gibt es unter anderem Ausstellungen, Lesungen, Barkassenfahrten, Zeitzeugengespräche und Gedenkfeiern. Programm unter www.geschichtswerkstatt-wilhelmsburg.de

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen