: Kranke Welt in der Arbeitsmedizin
Bislang wurde Chemiekranken oft die Rente verweigert. Nun gibt es für sie eine neue Chance. Doch viele wissen davon gar nichts, weil selbst die Regierung sie nicht informiert
MÜNCHEN taz ■ Konzentrationsschwächen, Gedächtnisstörungen, Herzaussetzer – Kirk Schmittner kämpft damit täglich. Der Kfz-Schlosser fiel am Arbeitsplatz um, nachdem er mit großen Mengen von giftigen Lösemitteln hantiert hatte. 1998 war das. Ein Jahr später stellten die Ärzte die Diagnose „Hirnorganisches Psychosyndrom nach Umgang mit Lösemitteln“.
Doch die zuständige Berufsgenossenschaft, die sich aus Beiträgen der Arbeitgeber finanziert, erkannte die Krankheit lange nicht oder nur teilweise an. Sie begründete dies mit Hilfe von Gutachtern. Die beriefen sich auf die Bundesregierung – genauer auf deren Merkblatt zur Berufskrankheit durch Lösemittel mit der Nummer 1317 (BK 1317).
Kirk Schmittner gab die Hoffnung auf eine angemessene Berufsunfallrente fast auf. Aber jetzt sieht er wieder positiver in die Zukunft. Das Merkblatt wurde im März korrigiert. Es war wissenschaftlich nicht haltbar. Nur: Viele Betroffene wissen noch gar nichts vom neuen Merkblatt. Die meisten werden weder von der Berufsgenossenschaft noch von der Bundesregierung informiert. Kranke müssen sich also selber kümmern.
Die wichtigste Änderung der Anerkennungskriterien: Im alten Merkblatt stand, dass sich die Symptome zwingend zurückbilden, wenn der Kranke den Lösemitteln nicht mehr ausgesetzt ist. Hat er – wie viele schwer Kranke – danach noch Symptome, so heißt das in der Logik des alten Merkblatts, er sei nicht durch Lösemittel krank geworden. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben aber belegt, dass die Symptome sehr wohl bleiben und sich verschlimmern können. In dem neuen Merkblatt ist das nun korrekt wiedergegeben.
Die Änderung des Merkblatts ist vor allem der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IKU) zu verdanken. Jahrelang betrieb Peter Röder, Vorstand des gemeinnützigen Vereins, Recherchen, um die Sachverständigen – vielfach Professoren der Arbeitsmedizin – damit zu konfrontieren. Warum es so lange dauerte, bis diese das Merkblatt umschrieben, ist unklar. Fest steht, dass viele Gutachter oder ihre Institute Geld von Berufsgenossenschaften und der Industrie etwa für Studien bekommen. Immerhin: Die Berufsgenossenschaften prüfen die abgelehnten Zweifelsfälle der BK 1317 und wollen „bei Bedarf“ neu entscheiden.
Doch Röder entdeckt erneut eine Unstimmigkeit: Auch die Anerkennung einiger anderer Berufskrankheiten durch Chemikalien, etwa der Berufskrankheit 1302 durch Halogenkohlenwasserstoffe, wurde in der Vergangenheit mit dem Verweis auf das Merkblatt 1317 abgelehnt. Laut Andreas Baader vom Hauptverband der Berufsgenossenschaften liegen dem Verband jedoch keine Erkenntnisse vor, ob „Einzelfälle“ unter einer anderen Ziffer verbucht wurden. Die jeweilige Berufsgenossenschaft müsse die Fälle überprüfen.
Die IKU empfiehlt allen Betroffenen eine Wiederaufnahme ihrer Verfahren einzuleiten, vor allem wenn die Berufskrankheit mit der Nummer 13 beginnt und Nervenschäden vorliegen. Wer den Verdacht hat, durch Lösemittel krank geworden zu sein, sollte dies seinem Arzt mitteilen und diesen auf das neue Merkblatt hinweisen. BRITTA BARLAGE
Die Initiative kritischer Umweltgeschädigter ist dringend auf Spenden angewiesen – nach dem politischen Erfolg geht es nun um direkte Hilfe für Betroffene. www.bk1317.de