: Der 1. Mai als Praktikum
Kreuzberger Jugendliche trainieren hart für den 1. Mai – für den Bühnenschutz. Für die Polizei ist das Projekt „Protection 05“ Prävention. Die Migrantenkids hoffen auf einen Job. Groß ist die Chance nicht
VON PLUTONIA PLARRE
Jede Trainingseinheit wird mit zehn Liegestützen eingeleitet. „Arsch runter! Oberkörper hoch!“, brüllt der Meister. Die Gesichter sind puterrot. Die Körper schweißgebadet. Sprint durch die Halle – Liegestütze. Entengang – Liegestütze. Froschsprung – Liegestütze. „Tempo, Tempo!“ Den Jugendlichen wird nichts geschenkt. Einige sind am Ende ihrer Kräfte. Egal. Zähne zusammenbeißen und weitermachen heißt die Devise. Wer dabei bleiben will, muss kämpfen.
Das Fitness- und Konditionstraining findet zweimal wöchentlich in einer Kreuzberger Turnhalle unter Leitung des europäischen Amateurboxmeisters im Federgewicht, Ibrahim Vural, und dessen Kompagnon Ali Kuyas statt. Es ist Teil einer berufsqualifizierenden Maßnahme für das Sicherheitsgewerbe. Ersonnen von Sozialpädagogen aus Kreuzberg, um den Migrantenkids eine Perspektive zu eröffnen. Auch die Polizei und das private Sicherheitsunternehmen Securitas leisten ihren Anteil. „Protection 05“ heißt das von der EU mit 8.000 Euro aus dem Topf „Lokales Programm für soziale Zwecke“ (LSK) geförderte Projekt. Der 1. Mai, besser gesagt die alljährlichen Krawalle in Kreuzberg haben es möglich gemacht. Was tut man nicht alles, um Jugendliche vom Steineschmeißen abzuhalten.
Aber was ursprünglich nur als Bühnenschutz „von unten“ für das Straßenfest gedacht war, ist inzwischen zum Selbstläufer geworden. Die beteiligten Jugendlichen werden beim Myfest zwar in einheitlicher Kluft – schwarze Regenjacken mit dem Logo „Protection 05“ – zum Einsatz kommen, aber längst geht es um mehr. „Der 1. Mai ist nur ein Praktikum“, sagt Martin Kesting, Leiter des Kreuzberger Jugendfreizeitheims Naunynritze. Das Problem ist nur: Wohin die Reise geht, ist völlig unklar.
„Die Idee kam aus dem Kiez“, erzählt Marc Schulte, Mitarbeiter beim Stadtteilmanagement KoKo am Mariannenplatz. Schon bei den Myfesten der beiden Vorjahre hatten sich mit einheitlichen T-Shirts ausstaffierte Kreuzberger Jugendliche als eine Art Hilfssecurity verdient gemacht. 2003, als der Krawall losging, hatten sie auf der großen Bühne am Mariannenplatz in Windeseile das gesamte Equipment abgebaut und die nicht versicherte Anlage in Sicherheit gebracht. „Wie sieht’s aus? Braucht ihr wieder Leute?“, wurden die Sozialarbeiter Schulte und Kesting gefragt.
„Wir haben keine Werbung für das Projekt gemacht“, erzählt Kesting. Ein Informationsabend genügte und 30 Jugendliche waren gefunden. Regelmäßige Teilnahme an allen theoretischen und praktischen Trainingseinheiten, so lautet die Bedingung. Waffen, Drogen, Alkohol und Gewalt sind strikt untersagt. Wer parallel zum Training eine Straftat begeht, wird ausgeschlossen. Ein Drittel der Gruppe hat inzwischen das Handtuch geworfen oder ist gegangen worden. 19 Jugendliche sind noch dabei. 17 Jungs und zwei Mädchen, im Alter zwischen 16 und 23 Jahren. Bis auf einen haben alle einen Migrationshintergrund. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind alle in Berlin geboren, die Mehrzahl sind Türken und Araber. „Bei Berufsfindungslehrgängen wird es schon als Riesenerfolg angesehen, wenn 50 Prozent bei der Stange bleiben“, freut sich Kesting über die vergleichsweise geringe Abbrecherquote.
Gökhan, 21 Jahre, hat die Schule nach der 8. Klasse ohne Abschluss verlassen. Bodyguard zu werden sei „das Höchste“, sagt er. „Menschen beschützen. Den Kanzler zum Essen bringen oder Musiker“. Der Palästinenser Murat (16) nimmt mit drei von insgesamt neun Brüdern teil. Am liebsten würde er Koch werden. Aber wer weiß, ob das klappt. „Irgendwas mit Sicherheit, Bundeswehr oder Türsteher wäre auch gut“, meint er. Hussein, Ali und Bela (der einzige gebürtige Deutsche) können sich vorstellen, zur Polizei zu gehen. „Vorbild sein. Den Leuten helfen, dass kein Streit entsteht“, sagt Ali. Das sei auf jeden Fall interessanter, als in einem Einkaufszentrum zu stehen, findet Bela. Ließe man den Jungs in der Turnhalle aber die Wahl – die meisten würden Personenschützer werden.
Die 16-jährige Layla kann das durchaus nachvollziehen. „Männer, die wie Schränke aussehen, finde ich echt gut“, gibt die bildhübsche Tochter einer Polin und eines Tunesiers mit einem spitzbübischen Lächeln zu verstehen. Layla hat ab August einen Ausbildungsplatz zur Physiotherapeutin. Der Reiz, die Kondition auf Vordermann zu bringen und am 1. Mai „auf der anderen Seite zu stehen“, hat die zierliche Frau dazu bewogen, an dem Training teilzunehmen. Beides eint sie mit den Jungs.
In der Gruppe findet sich keiner, der zugibt, bei den Krawallen früher nicht nur zugeguckt zu haben. Ob das stimmt, ist Projektorganisator Martin Kesting aber herzlich egal. „Wir wollen keine Bekenntnisse auf die Verfassung. Es reicht, wenn sie ihren Job gut machen.“
Kondition- und Fitnesstraining ist das eine. Theoretische und praktische Grundkenntnisse das andere. Für die Vermittlung der Theorie ist die Polizei zuständig. Genauer gesagt der Präventionsbeauftragte der Direktion 5, Stefan Bonikowski. In zwei Unterrichtseinheiten à drei Stunden liefert der 1,99 Meter große Hüne mit dem grauen Schnauzbart, in der Kreuzberger Sozialarbeiter-Szene beinahe liebevoll „Boni“ genannt, rechtliche Grundinformationen: Was ist Notwehr, was Nothilfe? In Rollenspielen übt er Konflikte, ohne körperliche Gewalt auszutragen, zeigt einen Film über den 1. Mai und diskutiert mit der Gruppe darüber. Auch eine Exkursion zur Funkzentrale der Polizei, zur Gefangenensammelstelle und zum Amtsgericht steht auf Bonikowskis Programm. „Das ist eine ganz tolle Truppe. Die sind extrem motiviert“, zeigt sich der Oberkommissar begeistert. Er kann das einschätzen, weil er in Schulen regelmäßig ähnliche Veranstaltungen durchführt.
Dass Sozialarbeiter aus SO 36 so eng mit der Polizei kooperieren, wäre vor zehn Jahren noch undenkbar gewesen. Aber nicht nur die Polizei hat sich verändert. Auch die Jugendeinrichtungen im Kiez sind zunehmend mit Gewalt- und Drogenproblemen konfrontiert, die die Betreuer nicht mehr allein lösen können. In der Naunynritze zum Beispiel verkehren 250 Jugendliche und zig Gruppen, 80 bis 90 Prozent haben Migrationshintergrund. „Es gibt eine große Schnittmenge für die Zusammenarbeit mit der Polizei“, sagt Kesting. „Wir haben das gleiche Ziel.“
Ohne das schwedische Sicherheitsunternehmen Securitas, internationaler Markführer im Bereich private Sicherheit, wäre „Protecion 05“ allerdings kaum das, was es ist. Securitas hatte bereits den Ehrenpreis gesponsert, den die Veranstalter des Myfestes auf dem letzten Präventionstag verliehen bekamen. Selbst in Kreuzberg ansässig fühlt sich das Unternehmen verpflichtet, dem Bezirk auch weiterhin bei seinen Befriedungsbemühungen unter die Arme zu greifen. Securitas hat den praktischen Trainingsteil übernommen. Wenn der 1. Mai vorbei ist, wird den Jugendlichen in zwei Unterrichtseinheiten von jeweils drei Stunden das Berufsbild „Werkschutz und Sicherheit“ nahe gebracht. „Es handelt sich um relativ profane Dinge“, sagt Securitas-Betriebsrat Erich Kupferschmidt, wohlwissend, was für abenteuerliche Vorstellungen in der Gruppe kursieren. „Mit Bodyguard hat das nichts zu tun.“ Hierzulande gebe es in der freien Wirtschaft für diese Berufsgruppe kaum noch einen Markt, erklärt Securitas-Geschäftsführer Frank Salewsky. „Zu RAF-Zeiten war das noch anders.“ Der klassische Personenschutz in Berlin sei rückläufig.
Warum Bodyguards bei Angehörigen unterer Bildungsschichten so attraktiv sind, liegt auf der Hand. Die Eingangsvoraussetzungen sind extrem gering, das Prestige dafür aber umso größer. Mit dem Klischee vom muskelbepackten Supermann, der von einer gefährlichen Situation in die nächste jettet, wird der vor allem bei jungen Migranten vorherrschende Machismo und Männlichkeitskult bedient. „Die meisten Jugendlichen kommen aus dem Kiez nie raus. Sie suchen nach Ehre und Anerkennung“, sagt Polizist Bonikowski. „So ein Job hebt sie aus der Masse raus.“
Auch eine Exkursion zu Feuerwehr, Bundeswehr und Technischem Hilfswerk steht für die Gruppe noch an. Als krönender Abschluss winkt Mitte Juni ein Survival-Wochenende mit Zelten im brandenburgischen Himmelpfort. Ganz am Ende bekommt jeder ein Zertifikat in die Hand gedrückt.
Und dann? Eigentlich sollte es erst am Ende bekannt werden, um Konkurrenz zu vermeiden. Aber die Jugendlichen wissen längst Bescheid: Der beste Teilnehmer bekommt von Securitas einen A34-Schein bezahlt – eine fünftägige Unterrichtung im Sicherheitsgewerbe plus Prüfung bei der Industrie und Handelskammer. Kostenpunkt 350 Euro. Der Schein reicht aus, um im privaten Bewachungsgewerbe tätig zu werden – vorausgesetzt, das polizeiliche Führungszeugnis ist ohne Eintrag. Offiziell könnte man damit aber nicht mal als Türsteher arbeiten.
Und was geschieht mit dem Rest? Wohin mit den großen Hoffnungen, die durch das Projekt geweckt worden sind? Bei der Polizei ist nichts zu holen. In der Behörde herrscht Einstellungsstopp. Dass man bei „Protection 05“ mitarbeite, sei nicht als Rekrutierungsmaßnahme für künftigen Nachwuchs zu verstehen, betont ein hoher Polizeibeamter. Das sei Prävention.
Quartiersmanager Marc Schulte spricht von „work in progress“. Vieles sei vorstellbar. Vielleicht springe für den einen oder anderen ja doch noch ein Job oder zumindest eine Hospitation bei einer Sicherheitsfirma heraus. Denkbar sei auch, dass die Jugendlichen bei Kiezveranstaltungen auf Honorarbasis kleine Sicherheitsdienste übernehmen. Zum Beispiel beim Straßentheaterfest oder dem World-Streetfootball-Turnier, einem Megaevent, das im kommenden Sommer in Kreuzberg zeitgleich zur Fußballweltmeisterschaft ausgetragen wird. Die Unterstützung von Bezirksbürgermeisterin Cornelia Reinauer (PDS) ist Schulte gewiss. „Ich werde innerhalb des Bezirksamtes befürworten, dass man die Jugendlichen bei bestimmten Anlässen engagiert“, sagt Reinauer.
Ein Blick auf den Nachbarbezirk Neukölln zeigt, das so ein Vorhaben nicht ohne Risiko ist. Eine Ende der 90er-Jahre vom dortigen Bezirksamt zu ähnlichen Zwecken beauftragte Gruppe von Jugendlichen habe sich bald eigenmächtig Befugnisse angemaßt, erinnert sich ein Polizeibeamter. Bestimmte Gruppen und Ethnien seien bei den Veranstaltungen kurzerhand nicht eingelassen worden.
Am Donnerstag steht „Briefing für den 1.-Mai-Einsatz“ auf dem Trainingszettel. „Als Erstes passt ihr auf euch selbst auf und dann erst auf die Bühne und Technik“, werden die Sozialarbeiter der Truppe ans Herz legen. „Vor allen Dingen aber: Lasst euch nicht provozieren“! Der Hintergrund ist klar: Im linken Internetportal indymedia wird „Protection 05“ als „Aufstandsbekämpfungsprojekt“ gegeißelt. „Wir fühlen uns geehrt,“ sagt Kesting ironisch. „Die nehmen uns ernster als wir uns.“