„Urbanität macht liberaler oder krank“

Für den Arzt Tom Bschor ist die hohe Zahl psychischer Erkrankungen ein Phänomen der Großstadt, auch weil es hier so viele Therapeuten gibt. Dennoch gebe es noch Vorurteile gegenüber einer Behandlung – vor allem unter Migranten

taz: Herr Bschor, etwa zehn Prozent aller Berliner sollen psychologischer oder psychiatrischer Behandlung bedürfen.

Tom Bschor: Das entspricht den bekannten deutschlandweiten Zahlen: Etwa 10 Prozent der Bevölkerung leidet beispielsweise an einer Depression, nach den Sucht- und vor den Angsterkrankungen die zweithäufigste der psychischen Erkrankungen. In einer Großstadt wie Berlin können einige Faktoren diesen Wert erhöhen. Es kommt aber auf die angelegten Diagnosekriterien an. Eine Depression wird heute sicherlich dort wesentlich häufiger diagnostiziert, wo sie sich früher hinter körperlichen Symptomen verstecken konnte.

Wer braucht denn psychologische oder psychiatrische Behandlung?

Jeder, der unter den Symptomen leidet. Bei einer Schizophrenie beispielsweise kann man seine üblichen Pflichten nicht mehr wahrnehmen oder fühlt sich verfolgt. Außerdem müssen die Beschwerden eine bestimmte Dauer haben. Bei Depression sind es zwei Wochen Traurigkeit und Antriebslosigkeit. Dann sollte man zum Arzt gehen.

Zum Hausarzt?

Oder zum niedergelassenen Arzt für Psychiatrie. Der kann mögliche organische Ursachen abklären, eine Diagnose stellen und dann eine Therapie empfehlen. Er darf Medikamente verschreiben, kann bei entsprechender Qualifikation eine Psychotherapie durchführen. Dies kann jedoch auch der psychologische Psychotherapeut …

von denen es in Berlin genug gibt.

Nach Bremen hat Berlin deutschlandweit die höchste Dichte an niedergelassenen Therapeuten pro Einwohner. Gleichzeitig ist die Zahl psychiatrischer Betten durch die Sparmaßnahmen der Krankenkassen stark gesunken. 1993 gab es hier über 5.300 psychiatrische Betten, 2001 waren es nur noch knapp 2.200. Auch die stationäre Aufenthaltsdauer der Patienten ist von 69 Tagen auf 22 Tage gesunken. Die Patienten werden offensichtlich früher entlassen und in ambulante Therapie weiterverwiesen. Bei diesen Zahlen bestimmen sich Angebot und Nachfrage auch gegenseitig. Den echten Bedarf an Therapiemöglichkeiten kann man schlecht bestimmen.

Warum ist er in Berlin wahrscheinlich so hoch?

Der urbane Charakter des Stadtstaats macht die Einwohner liberaler oder krank oder beides. Variablen, die eindeutig mit psychischen Krankheiten assoziiert sind, treten stärker auf: allein leben, Kinderlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Anonymität. Einfluss haben auch der Zeitdruck, hohe Kriminalität, der aufgehobene Tag-Nacht-Rhythmus bei Schichtarbeit und im Nachtleben. Bei den Suchterkrankungen ist natürlich der leichtere Zugang zu illegalen Drogen ein Phänomen der Großstadt. Und die Hemmschwelle, Hilfe zu suchen, ist hier sicher niedriger als auf dem Land.

Sind psychische Krankheiten heute gesellschaftlich akzeptiert?

Zumindest in bestimmten Kreisen und ab einem gewissen Status. Eine Therapie zu machen ist immer noch ein typisches Akademikerphänomen. Es passt gut zur Wohlfühlkultur, dass einer einem zuhört, der dafür bezahlt wird. Kollegen sagen, Charlottenburg sei der Ort mit der höchsten Psychotherapeutendichte Europas. In Köpenick sieht es schon wieder anders aus. Ein Arbeiter verbindet mit dem Thema Psychotherapie eher irrationale Ängste. Es ist nichts, womit er hausieren gehen würde.

Man denkt an geschlossene Station und Medikamente, die abhängig machen.

Viele tun das. Da steht sich besonders die 68er-Generation mit irrationalen Vorurteilen selbst im Weg, während gleichzeitig beispielsweise Ostberliner jeden Alters viel unkomplizierter sind und sich viel eher auf Empfehlungen zu einer Therapie einlassen. Der Aufenthalt auf einer geschlossenen Station ist selten nötig und wenn, dann kann er sehr hilfreich sein. Manchmal versetzen psychiatrische Medikamente einen Patienten erst in die Lage, eine Therapie wahrzunehmen. Die Vorurteile verursachen oft, dass Patienten eine Behandlung ablehnen, die ihnen schneller und eventuell besser helfen könnte als eine andere Therapie.

Migranten sind für Sie auch eine schwer erreichbare Zielgruppe.

Die Akzeptanz von Psychotherapie ist in ihren Kulturkreisen äußerst gering. Gleichzeitig leiden sie oft an Suchterkrankungen, eher durch illegale Drogen als Alkohol. Sie lassen sich aber selten helfen. Vor kurzem wurde ich zu einer türkischen Frau gerufen, die mit Bauchschmerzen eingeliefert wurde, für die es keine organische Ursache, sondern offensichtlich psychische Gründe gab. Nur mit viel Feingefühl konnte ich zu ihr durchdringen und sie dazu bringen, dass sie sich auf unserer Station behandeln lässt. Wir können immer nur raten und empfehlen.

INTERVIEW: JULIANE GRINGER