: Gefährliche Verdrängung
Die türkische Gesellschaft weigert sich standhaft, die Verbrechen an den Armeniern anzuerkennen. Auf die Türken in Deutschland hat das katastrophale Auswirkungen
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen die Deutschen nicht nur vor den Trümmern ihres zerstückelten Landes. Sie standen auch angesichts der Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft vor dem moralischen Ruin sowie vor einer Schuldfrage, die nach einer relativ kurzen Phase der Verdrängung zu einer beispiellosen historischen Aufarbeitung geführt hat.
Was aber passiert, wenn sich statt einer Erinnerungskultur eine Kultur des Verdrängens und Verleugnens etabliert? Wie können sich zwei Gesellschaften, die eine in der Kultur der Erinnerung zu Hause, die andere aber in der Kultur der Verdrängung, miteinander verständigen?
Der gegenwärtige Streit um die armenischen Opfer türkischer Vertreibung und Vernichtung aus dem Jahr 1915 verdeutlicht die Unmöglichkeit einer solchen Verständigung. Viele türkische Persönlichkeiten und Verbände in Deutschland reagieren auf den Völkermordvorwurf nach alten Mustern der Verdrängung. Sie ist so weit internalisiert, dass ihre Aufgabe einer Selbstaufgabe gleichkäme.
Dies kann keine Ausgangsposition sein, weder, um mit der deutschen Gesellschaft ins Gespräch zu kommen, die dieses problematische Kapitel der türkischen Geschichte immer offener diskutiert, noch mit den Nachfahren der Opfer, die sich seit Jahrzehnten um die Anerkennung ihres Leids bemühen.
Allein dieser Umstand ist schon ein ungeheuerlicher Vorgang. Man stelle sich einmal vor: Die eigene Familie wird vertrieben, die meisten Familienmitglieder verlieren während dieser Vertreibung ihr Leben, werden regelrecht massakriert, die Davongekommen und ihre Nachkommen aber müssen sich seit Jahrzehnten darum bemühen, dass der Rest der Menschheit, geschweige denn das Volk der Täter, das Leid und Unrecht, das ihnen widerfahren ist, anerkennt. Der Vorwurf der türkischen Seite gegen die armenische Diaspora, diese handle überzogen nationalistisch, ist infam, solange die offizielle Türkei keinen Finger rührt, um diesen Menschen und ihren persönlichen Geschichten entgegenzukommen.
Dieses Entgegenkommen kann weder durch eine gesellschaftliche Diskussion um die Vorgänge in Anatolien im Jahre 1915 noch durch Parlamentsdebatten ersetzt werden, schon gar nicht durch einen internationalen Historikerstreit. Schon die Forderung, die Historiker mögen sich mit dem Thema auseinander setzen, verrät Kälte und Distanz, die Teil des Problems und nicht seine Lösung sind. Die Archive seien offen, heißt es, als könne historische Wahrheit lediglich über Archive erschlossen werden. Historische Wahrheit ist keine naturwissenschaftliche Größe, die man mit einer mathematischen Formel erschließen kann. Sie versteckt sich in den Erinnerungen jedes einzelnen Menschen. Werden diese Erinnerungen einem permanenten Prozess der Verdrängung ausgesetzt, gibt es keine Wahrheit, sondern nur Lüge und Fälschung.
Die türkische Gesellschaft wird sich im 21. Jahrhundert dieses morsche Fundament des Verleugnens und der kruden Geschichtsfälschung nicht mehr leisten können, wenn sie in den Kreis europäischer Völker aufgenommen werden will. Sie kann nicht von ihnen fordern, die eigene Geschichte aufzuarbeiten, während die Türken nur an jene Version glauben wollen, die sie selbst gefälscht haben.
Doch was in den letzten Wochen fast alle türkischen Medien auch in Deutschland an den Tag legen, verheißt nichts Gutes. Statt einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema geht es wohl darum, Kapital aus der Leidensgeschichte der Armenier zu schlagen, denn sie eignet sich bestens, nationale türkische Gefühle auszubeuten. Wenn dies allerdings in Deutschland geschieht, ist das nicht nur gefährlich, sondern unerträglich.
Die Diffamierung kritischer Stimmen durch diese Presseorgane hat inzwischen jede journalistische Räson verloren und das Ausmaß einer Kampagne angenommen. Wieder einmal wird deutlich: Den meisten türkischen Politikern und ihren Handlangern sind die eigentlichen Belange der Türken im Ausland vollkommen gleichgültig. Sie sehen in den Türken im Ausland eine Manövriermasse für die eigenen Positionen, egal wie haltbar sie sind. Sie sehen in ihnen Bauernopfer, die man hin und her schiebt, um sie bei Gelegenheit fallen zu lassen. Die nationalistisch aufgeladene Masse lässt das scheinbar mit sich machen. Nicht ihre Integration in die deutsche Gesellschaft, nicht ihre Etablierung und die anstehende kosmopolitische Orientierung, nein, allein die nationalistische Gesinnung ist von Belang.
Das ist ein unerträglicher Zustand, der, sollte er anhalten, nichts Gutes für das deutsch-türkische Verhältnis verheißt. Die Akzeptanz der Türken in Deutschland durch die Einheimischen ist bereits sehr gering. Die Folgen einer weiteren Entfremdung können kaum abgeschätzt werden.
Vernünftige Stimmen in Deutschland, die noch zur rationalen Analyse der Lage fähig sind, fehlen nicht gänzlich. So hat sich der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg (TBB) nicht von der nationalistischen Welle mitreißen lassen. Das ist außerordentlich zu begrüßen, auch wenn zu befürchten ist, dass die nun gegen diese Organisation laufende Kampagne erheblichen Flurschaden in der türkischen Bevölkerung anrichten wird. Die Instrumentalisierung des Völkermords zu welchen Zwecken auch immer ist moralisch verwerflich und wirft einen dunklen Schatten auf die Betreiber solcher Interessen. Das trifft vor allem auf jene Politiker zu, die das so genannte gesunde Empfinden der türkischen Gesellschaft, zu dem die Leugnung und Verdrängung des Völkermordes gehören, bedienen.
Diese Instrumentalisierung aber ist nicht nur moralisch verwerflich, sie deformiert auch diejenigen, die sie betreiben. Sie treten somit in die Fußstapfen der Täter. Ebenso ist eine Gesellschaft, die ein Verbrechen eines solches Ausmaßes verdrängt, Schuld und Verantwortung hartnäckig verweigert, in keiner Weise vor Wiederholungen gefeit. Die Lynchstimmung, die in den letzten Wochen auf den Straßen der Türkei gegen Andersdenkende und Minderheiten aufgekommen ist, weckt nicht – wie zu erwarten wäre – schlimme Erinnerungen, weil solche Erinnerungen vorsätzlich aus dem Gedächtnis gelöscht worden sind.
All diese Vorgänge belegen nur eins: Die Dimension und Wirkung des Völkermordes an den Armeniern ist von den Türken nicht begriffen worden. Es fehlt nicht nur an rationaler Analyse, es fehlt auch an einer mitfühlenden Seelenlage und einem Bewusstsein für Verantwortung, die manche Diskussion vollkommen überflüssig machen würden. Etwa, ob man die Vorgänge nun Völkermord oder Massaker und Vertreibung nennt. Ein Begriffsstreit kann kein Opfer aus dem Gedächtnis der Geschichte löschen. Eine Gesellschaft, die sich nicht erinnern will, bleibt den Fehlern der Vergangenheit verhaftet. Dieses Urteil ist viel schlimmer als jede Verurteilung, die irgendein Parlament aussprechen kann.
ZAFER ȘENOCAK