: Mindestlohn für alle Branchen
Der Druck auf die Regierung wächst. Deswegen holt sie die Gewerkschaften zurück ins Boot. Die neue Parole: Mit voller Kraft gegen die Ausbeutung
VON ULRIKE WINKELMANN
Die Regierung macht Ernst – so sehr, dass es der Staatssekretär des Wirtschaftsministeriums gestern noch einmal wiederholen musste: „Ich will keinen Zweifel daran lassen, dass uns das außerordentlich ernst ist“, sagte Gerd Andres zur versammelten Presse.
Er erläuterte den festen Willen der Bundesregierung, „böse Praktiken“ und „übelste Formen der Ausbeutung“ zu bekämpfen, damit in Deutschland niemand zu Dumpinglöhnen beschäftigt wird. Andres’ Chef, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, hatte dies zuvor so erklärt: Es gehe darum, „für Recht und Ordnung im Arbeitsleben zu sorgen“.
Zu diesem Zweck segnete das Bundeskabinett gestern die Eckpunkte für ein neues Entsendegesetz ab. Dies soll nun nicht mehr nur im Bau gelten, sondern in allen Branchen. Das heißt, dass ausländische, also nach Deutschland „entsendete“ Arbeitnehmer nach einem Mindestlohn bezahlt werden müssen.
Sollte die Union im Bundesrat mitmachen, gäbe es bald zumindest die Möglichkeit für Mindestlöhne für alle. Kleine Einschränkung: Das Gesetz wird nur angewendet, wenn es flächendeckende Tarifverträge und öffentlichen Druck gibt. Etwa in der Fleischindustrie ist dies noch gar nicht der Fall (siehe unten). Denn hier gibt es zwar mittlerweile Druck, sprich enorme Aufmerksamkeit für den Einsatz osteuropäischer Billiglöhner zu illegalen Bedingungen – bloß keinen Tarifvertrag.
Doch: „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, erklärte der Chef der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Franz-Josef Möllenberg, gestern der taz. Er setzt darauf, dass das rot-grüne Maßnahmenpaket zieht: Durch Razzien und Kontrollen die Arbeitgeber solange zu nerven, dass sie sich in Richtung Tarifvertrag und Mindestlohn treiben lassen. Möllenberg war mit anderen Gewerkschaftschefs und Wolfgang Clement gestern gleich nach der Kabinettssitzung beim Kanzler eingeladen. Das Entsendegesetz sei ein „Schritt in die richtige Richtung“, sagte Möllenberg im Einklang mit DGB-Chef Michael Sommer. Mit dem eigentlichen Ziel, dem gesetzlichen Mindestlohn, will Möllenberg „nächstes Jahr kampagnenmäßig in den Bundestagswahlkampf ziehen“.
Offenbar ist es der SPD mit dem Entsendegesetz gelungen, die Gewerkschaften wieder für sich einzunehmen. Gemeinsam mit den noch 2004 von „Hartz IV“ vergrätzten Arbeitnehmervertretern soll nun eine Stimmungskulisse aufgebaut werden, wonach die Regierung mit einem gesetzlichen Mindestlohn droht, wenn sich die Arbeitgeber nicht bewegen. Staatsekretär Andres sagte gestern, er sei „kein Anhänger des gesetzlichen Mindestlohns – aber wer den nicht will, muss auch mithelfen“, dass es zu Tarifabschlüssen kommt.
Auf diese Weise wird das Entsendegesetz mit Mindestlohndrohung nun zum Beweis, dass es die SPD nicht nur mit den Löhnen, sondern auch mit der Kapitalismuskritik ernst meint. Deren Verbreitung frischte Parteichef Franz Müntefering gestern noch einmal auf. „Muss der Staat wirklich machtlos zusehen, wie gesunde Firmen platt gemacht werden, Arbeitnehmer wegen illegaler Geschäfte arbeitslos werden und sich Geschäftemacher die Taschen vollstopfen?“, fragte er in Bild.
Diese Frage soll natürlich nicht der Bild-Leser, sondern zunächst einmal die Union beantworten. Deren Zustimmung im Bundesrat ist nach gegenwärtigem Stand der gesetzgeberischen Erkenntnisse notwendig. Ronald Pofalla, Fraktionsvizechef, erklärte gestern zwar erst einmal markig die Ablehnung: „Damit würde der Arbeitsmarkt betoniert statt flexibilisiert, und es würden deutsche Arbeitnehmer mit niedriger Produktivität auf Dauer vom Arbeitsmarkt ausgegrenzt.“ Doch wie zum Beispiel zuvor schon der neue baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) stellte auch Pofalla eine Einigung auf eine befristete Regelung in Aussicht.
Und wenn dann aus dem Vermittlungsausschuss wieder eine halbgare und unwirksame Lösung herauskommt, kann die SPD natürlich die Union haftbar machen.