: Es war einmal in Afrika
Ein Genre entdeckt seine Geschichte:Die „Weltmusik“ ist in die Jahre gekommen und plündert jetzt die Archive. Das ist mehr als nur Nostalgie: Denn erst die Besinnung auf die Vergangenheit weist den Weg in die Zukunft
VON DANIEL BAX
Weltmusik, das wissen die meisten inzwischen, ist kein klar abgegrenztes Genre, kein musikalischer Stil. Es ist ein Sammelbegriff für alle Musikstile dieser Welt, die durch die herkömmlichen Genre-Raster fallen, also weder Pop, Rock, elektronische Musik noch HipHop sind: Mischformen wie algerischer Rai, kongolesischer Soukous oder kolumbianische Cumbia-Schlager, die genauso stark von lokalen Traditionen gefärbt sind wie von internationalen Trends.
Einst wurde diese Kategorie von cleveren Kleinlabels eingeführt, um solchen Stilen, meist aus der Dritten Welt, einen Weg in westliche Plattenläden zu bahnen. Der Begriff hat sich etabliert, weil er seine Funktion erfüllt: Heute gibt es nicht nur in jedem Plattenladen ein Weltmusik-Fach, Weltmusik-Labels, -Festivals und Weltmusik-Awards. Sondern auch Weltmusik-Radiosendungen und -Zeitschriften auf der ganzen Welt sowie ganze Radiosender wie das Funkhaus Europa in Köln oder Radio Multikulti in Berlin, die ihr Programm mit globalen Sounds bestreiten. „Weltmusik“ ist ein globales Phänomen geworden.
Schon immer hatte der Trend zur Weltmusik viel mit Exotismus und Nostalgie zu tun, mit der Sehnsucht nach fernen Ländern und vergangenen Zeiten. Bereits Paul Simon suchte in den 80er-Jahren in Südafrika sein „Graceland“ in der Vergangenheit und fand es bei Zulu-Vokalgruppen wie den Bhundu Boys, die ihn an die Doo-Wop-Ensembles seiner Kindheit erinnerten. Und auch die gegenwärtige Begeisterung für Balkanklänge erklärt sich zu einem großen Teil daraus, dass sie eine Unmittelbarkeit, eine kommerzielle Unschuld und einen Enthusiasmus zu besitzen scheinen, die der heutigen Popmusik irgendwie abhanden gekommen sind.
Doch auch die „Weltmusik“ ist in die Jahre gekommen. Wenn man die wichtigen Veröffentlichungen der letzten Monate betrachtet, tummeln sich darunter auffällig viele bekannte Namen: Khaled, Youssou N’Dour, Ali Farka Touré oder Juan de Marcos Gonzalez, der Mitbegründer des Buena Vista Social Club, sie dominieren die Szene schon seit über einer Dekade. Und wenn man sich anschaut, was Radio-DJs aus ganz Europa in diesem Monat in den Weltmusik-Radiocharts (www.wmce.de) zu den wichtigsten Neuerscheinungen der Saison gekürt haben, dann regiert offenbar die Nostalgie: Gleich zwei Doppel-CDs mit afrikanischer Musik aus den Siebzigerjahren rangieren dort ganz oben: Die Compilation „Golden Afrique“ mit dem Fokus auf Westafrika (siehe Seite 2) sowie ein Album der Bembeya Jazz National aus der gleichen Ära.
Hat die „Weltmusik“ also ein Nachwuchsproblem? Ist der Griff in die Archive das Zeichen für den allmählichen Rückzug aus der Gegenwart, in eine nostalgisch verklärte Vergangenheit?
Gleichzeitig, so lautet ja eine Theorie, verschwimmen die Grenzen zwischen Pop und Weltmusik immer mehr. Die Hörgewohnheiten im Westen haben sich verändert, und in der ehemaligen Peripherie wurden die Produktionstechniken perfektioniert. Dadurch gleichen sich die Musikwelten rund um den Erdball immer mehr an, und die Unterschiede zwischen Erster und Dritter Welt verschwinden. Regionale Stars heißen heute Ruslana, Shakira oder Dragostea Din Tei. Und wenn sie in den Westen drängen, steigen sie dort gleich in die Top 10 auf.
Denkt man diesen Prozess der Globalisierung zu Ende, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder alles wird in absehbarer Zeit zu Pop und der Prozess endet in einer kompletten Angleichung der Verhältnisse. Dann wird man rückblickend eines Tages vielleicht feststellen, dass auch die Weltmusik der Sound einer abgeschlossenen Epoche, einer vergangenen Ära war: Einer Zwischenzeit, in der sich die Differenz und die Universalität der Musiken der Welt noch die Waage gehalten haben. Der Ethno-Pop von Youssou N’Dour & Co war exotisch genug, um für westliche Ohren interessant zu klingen. Aber nicht so fremd, um nur Unverständnis zu provozieren.
Wahrscheinlicher ist jedoch eine andere Variante: Denn dass Re-Issues in der „Weltmusik“ derzeit der Sound der Stunde sind, ist nicht unbedingt Anzeichen einer Krise: Gerade in der Besinnung auf die Vergangenheit liegt der Weg in die Zukunft. Als Club-DJs die Archive und Flohmarkt-Kisten plünderten, um rare Funk-Grooves, alte Easy-Listening-Schlager, Reggae-Klassiker aus dem „Studio One“ oder vergilbte Bossa-Nova-Aufnahmen aus Brasilien zu Tage zu fördern, dann hatte das auch selten nostalgischen Charakter: Vielmehr gab solches Wühlen meist Anstoß zu neuen Retro-Trends.
Wenn also die Weltmusik derzeit ihre Geschichte entdeckt, dann ist diese noch längst nicht an ihr Ende gekommen, im Gegenteil: Sie findet damit eine Fortsetzung. Zumal jede Weltmusik-Mode im Westen auch immer Rückwirkungen auf die Herkunftsländer hatte. Denn erst die Anerkennung im Ausland befördert oft den Stolz auf die eigenen Musiktraditionen, und diese Wertschätzung setzt manch vergessen geglaubte Musikstile und Künstler wieder in ihr historisches Recht.
Das war nicht nur auf Kuba so, wo erst der Hype um den Buena Vista Social Club die klassischen Soneros alter Schule wieder in Erinnerung rief. Auch die Entdeckung alter Bossa-Platten durch europäische DJs, die diese mit elektronischen Beats kombinierten, hat zu ähnlichen Versuchen in Brasilien geführt. Und der durchschlagende Erfolg der Roma-Ensembles vom Balkan auf europäischen Bühnen irritiert jene Chauvinisten in Südosteuropa, in deren ideologische Raster dieses Phänomen nicht passen will. Jeder Retro-Trend im Westen schlägt also noch größere Wellen an der Peripherie.
Außerdem wird eine gewisse Ungleichzeitigkeit zwischen den den Kontinenten wohl immer bleiben, und damit ein inkommensurabler Rest: Zum Beispiel mag HipHop rund um den Globus, auf Kuba oder in Afrika, derzeit das große Ding sein. Doch abgesehen von der Sprachbarriere, die einem größeren Erfolg im Ausland im Wege stehen, haben HipHop-Produktionen aus Kuba und Afrika meist nicht das technische Niveau, um soundtechnisch mit der europäischen oder gar der US-Konkurrenz mitzuhalten: Diese Musik ist für den HipHop-Konsumenten hierzulande uninteressant, und für das breite „Weltmusik“-Publikum womöglich zu modern.
Das dürfte die „Weltmusik“ von morgen sein.