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Archiv-Artikel

Virtuose Wunschbilder

Aus dem Vollen geschöpft: Die Autostadt Wolfsburg setzt im Kulturprogramm auf Tanz und sieht plötzlich aus wie ein Paradies der Vollbeschäftigung. Die Compagnie Montalvo-Hervieu eröffnet dazu das Festival Movimentos mit schönen Träumen über Bewegungsähnlichkeiten von Mensch und Tier

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Nichts steht jemals still auf der Bühne im alten Kraftwerk: Unentwegt greifen die Bewegungen der Tänzer und der tierischen Körper aus den Videobildern ineinander. Wie die Kaninchen, von denen ein Zauberer erst zwei aus seinem Hut hervorholt, bevor sie zu einem unübersehbaren Wurf anwachsen, vermehrt sich alles: In den computergenerierten Bildern wird aus einem Löwen gleich ein ganzer Fries der Bestien, domestiziert im barocken Ornament, während die superschnellen Soloszenen von fast jedem der 17 Tänzer vom ganzen Ensemble aufgegriffen werden. Die Choreografie „On Danse“, mit der die französische Compagnie Montalvo-Hervieu das internationale Tanzfestival Movimentenos in der Autostadt Wolfsburg eröffnet hat, funktioniert fast wie ein Blick ins Paradies, als die Verständigung zwischen den Tieren und den Menschen noch ohne Störung funktionierte und keiner des anderen Beute war. Aber nur fast – denn nie verleugnet das Spektakel, aus Wunschbildern hervorgegangen zu sein. Die Natur, mit der die Choreografen José Montalvo und Dominique Hervieu so virtuos spielen, hat ihr Urbild in der Geschichte der Kunst.

Die kunst- und technikverliebte Produktion scheint wie gemacht für den Start eines Festivals, das selbst in einer künstlich geschaffenen Welt stattzufinden scheint. Das Festival Movimentos, vor drei Jahren von der Autostadt Wolfsburg ins Leben gerufen, ist einer ihrer stärksten Anziehungspunkte. Der öffentliche Raum, das kulturelle Leben und die Welt des Konzerns sind hier nicht mehr voneinander zu trennen. Ob man mit der Bahn zum Festival anreist oder über die Autobahn kommt, nie muss man das Gelände der Autostadt verlassen. Jeder Fußbreit der Architektur, jeder Satz auf den Speisekarten der zahlreichen Restaurants, jede Geste der alle paar Schritte freundlich den Weg weisenden Hostessen sendet Signale aus: von Perfektion, Sauberkeit, Sicherheit, Vollbeschäftigung. In der Hauptsache ist dieses Programm für den potenziellen Autokäufer gemacht, und bei solcher Personal-Intensität glaubt man schnell, dass jedes Detail unter Kontrolle ist.

Das Festival zeigt sieben Compagnien in 31 Tagen, die meisten von großem Renommee, wie Deborah Colker aus Rio de Janeiro, von Tero Saarinen aus Finnland oder der Shen Wie Dance Arts aus New York. Aber weil ein großes Renommee in der Welt des zeitgenössischen Tanzes über einen Zirkel von Insidern hinaus fast niemandem bekannt ist, ist es auch immer ein Risiko, auf den Tanz als Promoter zu setzen – und dieses Risiko auf sich zu nehmen, heftet sich die Autostadt stolz ans Revers. Tatsächlich wird sie um ihre finanzielle Ausstattung von jedem anderen Veranstalter von Tanztreffen beneidet. Zumal sie sich um den Verkauf ihrer Karten der fast tausend Plätze umfassenden Tribünen im alten Kraftwerk kaum noch sorgen muss. Vor Ort sind sie als Veranstalter konkurrenzlos. Auch das alte Kraftwerk gehört zur Volkswagen AG und ist Industriedenkmal und Veranstaltungsort zugleich.

Alles scheint hier aus dem Vollen zu schöpfen. „Enjoy the space“, ruft eine der Tänzerinnen und wirft sich dem Raum der ausnahmsweise leeren Bühne so wollüstig entgegen, als wäre es ein Liebhaber. Wie sie ächzt, wie sie stöhnt, wie sie die Arme aufreißt und mit Anlauf in alle Ecken springt, ist längst nicht die einzige Szene, die das Publikum zum Kichern bringt. „I love it. All that little articulations“, bewundert eine zweite Tänzerin, die sich mit Clownsnase dem Part der Ungeschickten verschrieben hat, den bewegten Rücken eines Kollegen und vergleicht ihn mit einem zweiten. Und schon hat sie zwei Idiome der Körpersprache vor sich. Mit solchen Einschüben betreibt das Stück „On Danse“ etwas wie eine Alphabetisierungskampagne für den Tanz, eine spielerische Einführung in den Kontext seiner Lesbarkeit.

Ein Sprung durch die Zeiten und eine Verbindung der Geschichte mit der Gegenwart gelingt der Compagnie dabei mit erstaunlicher Leichtigkeit. Die Musik von Jean-Philippe Rameau und die Bewegungscodes des HipHop bilden zwei Pole, die in einer so großen Geschwindigkeit miteinander verflochten werden, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Das mag zwar eklektizistisch sein und eine ästhetische Grenzerweiterung, die sich wenig um die realen Grenzen sozial unterschiedlich definierter Milieus schert. Aber es ist, wie die Bewegungsverwandtschaft zwischen den Tieren und den Menschen, ein schöner Traum.