: Das lähmende Gift
Die Grünen seien dazu da, undurchsetzbare Politik durchsetzbar zu machen. Und nur zu diesem Preis könnten die „Seitenwechsler“ die SPD in der Regierungskoalition halten. Sagt der linke Stadtrat und Daimler-Betriebsrat Tom Adler. Die Bewegung gegen S 21 werde sich aber nicht „resigniert aufs Sofa zurückziehen“, sondern weiter laut und hartnäckig bleiben
von Tom Adler
Der Schriftsteller Wolfgang Schorlau hat die Debattenreihe über den Kontext der Bewegung gegen Stuttgart 21 mit dem Text „Grüne Kreidefresser“ eröffnet. Am vergangenen Wochenende nun hat Ministerpräsident Winfried Kretschmann in der Kontext:Wochenzeitung gesprochen („Heilige Maria, hilf!“). Dass Politiker mitunter an der Einschränkung ihrer Handlungsfreiheit durch echte oder freiwillig hingenommene Sachzwänge leiden, hat man dabei erfahren. Dass dem einen bei der Bewältigung solcher inneren Konflikte der Trollinger, dem anderen halt der Glaube an die Mutter Maria hilft, auch. Nicht erfahren hat man dagegen, was die ständig wiederholte Behauptung belegen würde, er und sein grünes Spitzenpersonal in der Landesregierung hätten alles ihnen Mögliche getan, um die Bahn zu hindern, ihr zerstörerisches Projekt vorwärtszutreiben und S 21 zu bauen. Aus gutem Grund: weil es da nichts zu belegen gibt.
Konkrete Ansatzpunkte, um gegen das absolutistische Gebaren der Bahn vorzugehen, gab und gibt es genug. Ob Kosten, Kapazitätsberechnungsschwindel, Planungs- und Planfeststellungschaos – der Ministerpräsident oder das Verkehrsministerium nutzten keine der politischen, fachlichen und juristischen Steilvorlagen. Nicht einmal in die „Grünen-Seiten“ der Infobroschüre der Landesregierung zur Volksabstimmung wurden sie aufgenommen. Was die gewichtigen Fakten zur Kapazitätsberechnung von Kopf- und Tiefbahnhof angeht, wurden sie sogar regelrecht verhindert.
Selbstkritik tut auch in Bürgerbewegungen gut
Die Frage, warum, ist einfach zu beantworten: Weil nur um diesen Preis die SPD in die Koalition zu holen, dort zu halten und die Grünen zur Regierungspartei zu machen waren. All die abstrakten, philosophisch-demokratietheoretischen Exkurse des Ministerpräsidenten können darüber nicht hinwegtäuschen. Die Volksabstimmung war kein erster Schritt zur „neuen Bürgergesellschaft“ (Kretschmann). Sie war vielmehr schon im heißen Protestsommer 2010 von der immer stärker unter Druck geratenden SPD als Rettungsanker erkannt und propagiert worden. Im Frühjahr 2011 sollten dann auch die Landes-Grünen nach diesem Rettungsanker greifen und dafür auf die vor der Wahl versprochene juristische Klärung der Verfassungsmäßigkeit der S-21-Verträge verzichten. Selbstkritik tut auch in Bürgerbewegungen gut.
Im Sog Richtung Volksabstimmung, den die Grünen in der Lage waren zu erzeugen, haben auch viel kritischere Geister nicht gegengehalten – sondern zugelassen, dass die Volksabstimmung zu einer Errungenschaft der Protestbewegung und zum großen Schritt Richtung direkter Demokratie überhöht wurde. Man wurde so zum unfreiwilligen Stichwortgeber zum Beispiel auch für Muhterem Aras, die es in ihrem Debattenartikel vom 11. Februar als „höchst undemokratischen Akt“ der „Gesinnungsdiktatur“ bezeichnet, wenn jetzt nach der Volksabstimmung noch von der grün-roten Landesregierung verlangt würde, „sie solle sich über die Volksabstimmung hinwegsetzen und ,was‘ tun“.
„Man muss aber auch nicht unbedingt in eine Regierung eintreten, deren Juniorpartner zu den windigen Befürwortern eines noch windigeren Großprojektes gehört. Man hätte zum Beispiel auf die Futtertröge der Macht verzichten und die SPD in eine Koalition mit der CDU schicken können, damit sie sich dort weiter selbst dezimiert“, schreibt im Kontext-Onlinedialog ein Kommentator. Wohl wahr. Für die Machtentwicklung von Bürgerbewegungen in einer „neuen Bürgergesellschaft“ ist ein klar erkennbarer Gegner allemal förderlicher als ein unzuverlässiger „Freund“, der ständig Beißhemmung erzeugt und daran interessiert ist, Widerstandswillen zu lähmen. Auf diesen Gesichtspunkt hat die Kontext-Autorin Annette Ohme-Reinicke zu Recht hingewiesen: Vertreter der Grünen gäben sich zwar gern „gelegentlich als die Spitze sozialer Bewegungen“. Aber tatsächlich „erfüllen die Grünen die Aufgabe (…), die mögliche Rebellion zur Ordnung zu rufen und in die Ordnung zurückzuholen. Wie vormals die Sozialdemokratie“, sagte der Politikwissenschaftler Johannes Agnoli.
Johannes Agnolis Diagnose bezog sich seinerzeit auf eine grüne Partei, die noch nicht regierte, sondern gerade dabei war, sich ihres nicht systemkonformen linken Flügels zu entledigen, um in den herrschenden Kreisen Regierungsfähigkeit attestiert zu bekommen. Die hat sie in der Zwischenzeit mehrmals unter Beweis stellen dürfen. Die hundertjährige Entwicklung der Sozialdemokratie hat sie dabei gewissermaßen im Zeitraffer durchlaufen. Und dabei hat sie für die wirklich Mächtigen im Land dieselbe unschätzbar wichtige Funktion im politischen System übernommen wie die SPD: gegen absehbaren gesellschaftlichen Widerstand undurchsetzbare Politik durchsetzbar zu machen.
Das war bei Schröders Agenda 2010 so, bei der Entfesselung der Finanzmärkte, beim Umbau der Bundeswehr zur Interventionsarmee in aller Welt. „Es war kein Zufall, dass ein SPD-Kanzler die Agenda 2010 verabschiedete, die Grünen im Kosovo und in Afghanistan das Pazifismus-Dogma überwanden“, schreibt der Berliner Tagesspiegel am 13. Februar 2012. „Wieder einmal kann jetzt eine Grausamkeit (…) nur von jenen begangen werden, die unverdächtig sind, sie verüben zu wollen. In diesem Fall von den Grünen, die in Baden-Württemberg regieren (…). Kretschmanns (…) Pose des zähneknirschenden Vollstreckers ist unschlagbar.“
Eine Linke-Pressure-Group im Landtag wäre hilfreich
Dies zerreißt sehr vielen an der grünen Basis und ihrem Umfeld das Herz, das nach wie vor gegen S 21 schlägt. Aber noch wirkt das lähmende Gift und hält viele davon ab, wieder auf die Straße zu gehen. Kritische Rückblicke können da mitunter helfen. Vor ihrer Metamorphose zum „Seitenwechsler“ (Tagesspiegel) hatten die Grünen als kleine, agile parlamentarische Fundamentalopposition im Bündnis mit außerparlamentarischen Bewegungen bedeutende Veränderungsprozesse im öffentlichen Bewusstsein in Gang gesetzt. Dass Veränderung auch durch Opposition stattfindet, das hatten paradoxerweise viele in unserer Bewegung vor den Landtagswahlen vergessen.
Engagiert argumentierten viele integre prominente S-21-Gegner gegen die Wahl der Linken und richteten alle Hoffnung auf eine grüne Regierung. Die jetzt bitter enttäuscht wird. Annette Ohme-Reinicke analysiert dies als den unauflöslichen politischen Widerspruch zwischen Bürgerbewegungen und Parteien an sich. Weil für Parteien im Vordergrund immer die nächste Wahl mit Machtgewinn oder -verlust stehe. Das ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Man kann es allerdings auch etwas pragmatischer sehen. So ist gerade die Linke Baden-Württemberg nicht der Verein, der in dieses Raster passt, der seine Politik vor allem anderen auf Stimmenfang ausrichtet und dem alle politischen Inhalte unterordnet. Wäre eine Linke-Pressure-Group im Landtag heute nicht vielleicht hilfreich?
Die Auseinandersetzung um S 21 ist noch längst nicht zu Ende – trotz zugelassener Denkmal- und Parkzerstörung. Die Bürgerbewegung wird weiter laut und hartnäckig präsent bleiben, auch wenn Polizeipräsident Züfle auf die lähmende Wirkung der „gefallenen Ikonen“ hofft. Denn es geht um viel mehr als um einen Bahnhof. So konterkariert der mit S 21 vorangetriebene Rückbau der Schieneninfrastruktur alle „grünen“ Pläne für ein umwelt- und menschenverträgliches Transportsystem.
Eine Woche nach der Volksabstimmung erklärt Grube, der Kostendeckel werde nicht gehalten, zwei Wochen danach, wichtige Nahverkehrsbahnstrecken würden nicht gebaut. Vier Wochen später erklärt Ramsauer, er baue nicht den Gütertransport auf der Schiene aus, sondern wolle Großversuche mit Gigalinern. Der Fernbusverkehr als direkte Konkurrenz zur Schiene wird parallel zu Bahn-Fernverkehrsstrecken gefördert. Dass hier die verkehrspolitischen Ziele der Automobilkonzerne durchgesetzt werden sollen, springt ins Auge. Und dies wird – zusammen mit den anderen Desastern des „bestgeplanten Projekts“ – dazu beitragen, dass die erwünschte Ruhe nicht eintritt.
Der deprimierende Verlust des Parks mag vielen noch zentnerschwer aufs Gemüt drücken. Doch S 21 ist auch nach der Parkzerstörung noch längst nicht unumkehrbar geworden. Schon am letzten Samstag auf dem Schlossplatz war es wieder spürbar: Wir sind Beispielgeber, Mutmacher, Referenzpunkt für Bewegungen nicht nur in Deutschland geworden. Und sehr viele haben mit dieser Bewegung eine Verbundenheit mit dieser Stadt entdeckt und entwickelt, die sie davor nicht hatten. Das Motto vom Samstag: „Ihr macht alles kaputt – uns nicht!“, ist die klare Botschaft, dass wir weder aufgeben noch uns resigniert aufs Sofa zurückziehen werden. Mit der Stuttgarter Bürgerbewegung muss weiter gerechnet werden!
Tom Adler (58) sitzt für DIE LINKE in der Fraktionsgemeinschaft SÖS/DIE LINKE im Stuttgarter Stadtrat, ist Mitglied des Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 und Betriebsrat bei Daimler.