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Archiv-Artikel

Auf ins Eis

Mauerwandern (Teil 9) Der Eiskeller war zu DDR-Zeiten das bestbewachteste Gebiet Deutschlands. Heute geht es auf den verwilderten Gelände ziemlich relaxt zu

Die 9. Etappe

■  Die Dorfkirche Staaken ist über 700 Jahre alt. Nach dem Bau der Mauer wurde sie zur Grenzkirche. Im Sommer und Herbst 1989 traf sich dort der DDR-kritische Staakener Kreis. Auch in der Nazizeit hat die Kirche als Ort des Widerstands Geschichte geschrieben.

■  Zwei Holzkreuze für Mauertote säumen die Wegstrecke. An der Berg- Ecke Hauptstraße wurde am 19. Dezember 1961 der 20-jährige Fluchthelfer Peter Wohlfahrt erschossen. Am Finkenkruger Weg starb der Bauschlosser Willi Bloch am 7. Februar 1966 im Sperrfeuer, als er zum dritten Mal versuchte, die Grenze zu überwinden.

■  Einkehrmöglichkeiten an der Strecke sind rar. Am Nennhauser Damm wirbt das Grenzeck mit „günstig Essen, wie vor 20 Jahren“. Wiener Schnitzel und Cevapcici gibt’s für 4,50 Euro. Im Parkstübchen am Finkenkruger Weg winken Backwaren und Eis. Am Ende der Strecke gibt es in Peter Frädrichs Außer-Haus-Verkauf im Eiskeller das verdiente Bier. Übrigens: Seit einem späten Gebietstausch ist der Eiskeller nicht mehr nur über eine schmale Straße zu erreichen, wie die Karte zeigt. TAZ

VON PLUTONIA PLARRE (Text) UND KAY MICHALAK (Foto)

Eiskeller – schon zu Kinderzeiten hat der Name die Fantasie beflügelt. Verschneite Landschaften tauchten vor dem inneren Auge auf und zugefrorene Seen. Im Eiskeller sei es besonders kalt, lernten Westberliner Schüler, die wie ich in den 60er-Jahren in der eingeschlossenen Mauerstadt aufwuchsen. Doch nicht nur wegen der Kälterekorde war die im Nordwesten der Stadt auf DDR-Gebiet gelegene, aber zu Westberlin gehörende Exklave ein Mysterium: Wie leben die Menschen dort, haben wir uns gefragt? Ein Klassenausflug hätte Aufschluss gebracht. Aber der Eiskeller stand nicht auf dem Stundenplan.

20 Jahre nach der Wende ist Gelegenheit, das Versäumte nachzuholen. An der Heerstraße habe ich beim taz-Mauerwandern den Staffelstab übernommen. Die Schönwalder Allee ist das Etappenziel. Aus Staaken kommend ist man nach einer guten Stunde Wanderung durch den Wald am Eiskeller angelangt. Hinter einer Schrebergartenkolonie und einem Wäldchen erschließen sich dem Auge wilde Wiesen und Felder, aus denen zwei, drei Hausgiebel ragen. Pferde scharren im Sand, die Sonne baggert vom Himmel, es duftet nach Heu. Wie ein U höhlte die zu Spandau gehörende Exklave einst die DDR-Grenze aus. Umgeben von Mauer und Stacheldraht, hätten 1961 drei Familien auf dem 50 Hektar großen Gelände gelebt, wird erzählt. Später seien es sieben Familien gewesen. Einzige Verbindung zu Spandau war eine 4 Meter breite und 800 Meter lange Straße.

Panzer auf dem Schulweg

An der alten Zufahrt steht heute eine Informationstafel. 1961 hat es im Eiskeller großen Aufruhr um einen 12-jährigen Jungen gegeben, ist zu lesen. Der Schüler habe zu Hause erzählt, dass er auf dem Weg zur Schule von DDR-Grenzposten vom Fahrrad geholt und stundenlang festgehalten worden sei. Danach seien alle Kinder aus dem Eiskeller von britischen Soldaten in Panzerspähwagen auf dem Schulweg nach Spandau begleitet worden. Später wurden sie dann von einem Schulbus abgeholt. „Jahrzehnte danach“, heißt es auf der Tafel „stellte sich der Bericht des Schülers als Lüge heraus. In Wahrheit hatte er die Schule geschwänzt“.

Der Schülers habe Erwin S. geheißen. „Inzwischen lebt der in Spandau“, erzählt der 72-jährige Volkmar Näcke. Näcke lebt seit 1966 mit seiner Familie im Eiskeller. Früher hatte er eine Schweinemast. Heute betreibt er eine Pferdepension. Der Eiskeller war immer ein Politikum, sagt Näcke. Bei Bauanträgen habe das Bezirksamt Spandau grundsätzlich Schwierigkeiten gemacht. „Immer hieß es, das lohnt sich nicht, weil es sowieso bald einen Gebietsaustausch gibt.“ Stromleitungen wurden erst 1978 gelegt. Bis dahin versorgte man sich mittels Dieselgeneratoren. „Is och gegangen. War billiger als jetzt“, sagt Näcke.

Stromleitungen wurden erst 1978 gelegt. Bis dahin versorgte man sich mittels Dieselgeneratoren. „Is och gegangen. War billiger als jetzt“

VOLKMAR NÄCKE, 72, LEBT SEIT 1966 MIT SEINER FAMILIE IM EISKELLER

Der Eiskeller war das bestbewachteste Gebiet Deutschlands. 24 Bereitschaftspolizisten waren rund um die Uhr in zwei Holzhüten auf der Brache stationiert. Dazu kamen zwölf britische Soldaten und – auf der anderen Seite – die DDR-Grenzer, berichtet Näcke. Kontakt zu den DDR-Grenzern habe er nicht gehabt. Aber zu den Briten. „Zu Weihnachten kamen die meistens mit Geschenken. Eine Flasche Whisky war auch dabei“, sagt er und strahlt.

Das Haus, in dem Erwin S. aufgewachsen ist, steht auch noch. Heute wohnt ein 58-jähriger Frührentner darin: Peter Frädrich, ein fröhlicher, rotgesichtiger Mann mit beachtenswertem Bauchumfang und gelben Nikotinfingern. Viel Zeit für die Pflege des Gartens scheint der frühere Steinmetz nicht aufzubringen. Auch die Laube, in der er mit Freunden beim Bier sitzt, wirkt notdürftig zusammengezimmert. Frädrich verkauft Bier: Nur außer Haus, steht auf einer Tafel mit den zig Biermarken. Vor allem von Spandauer Bikern fortgeschrittenen Alters wird der Kiosk angefahren. Es ist der einzige weit und breit. Das Bier ist billig. Frädrich ist mit den meisten Kunden per du.

Mal kälter, mal heißer

Zum Bespiel mit einem 47-jährigen Hartz-IV-Empfänger mit braungebranntem Oberkörper, der auch Peter heißt. Arbeiten gehe er seit 2001 nicht mehr, sagt der gelernte Maler. Bei den miesen Löhnen rentiere sich das nicht. „Ich hätte 100 Euro mehr in der Tasche. Wenn ich dann den Zuschuss für die Monatskarte und die GEZ abziehe, bin ich bei null.“ Da schwinge er sich lieber aufs Rad. „Eiskeller ist für mich Urlaub“, sagt er und nimmt einen Schluck aus der Pulle.

taz-Serie Mauerwandern

■  160 Kilometer lang war die Mauer, die Westberlin vom Osten trennte. Von kleinen Umwegen abgesehen, kann man noch immer den Grenzverlauf abradeln oder -laufen, wie die taz in ihrer Sommerserie zeigt. In 15 Folgen à rund 10 Kilometer schildern taz-Redakteure, was man entlang dem offiziellen „Berliner Mauer-Radweg“ erleben kann – zu Fuß!

■  Die vorige Etappe (erschienen am 4. August) erzählte vom Uferstreit in Groß-Glienicke.

■  Die nächste Folge erscheint am kommenden Dienstag.

■  Alle Etappen im Internet unter taz.de/mauer

Auf dem Grundstück der Familie S. befand sich bis 1995 eine Wetterstation. Der inzwischen verstorbene Vater hat täglich die Temperaturen für das Wetteramt abgelesen. Ein Mitarbeiter der Freien Universität Berlin holte die Tabellen alle 14 Tage ab. Längst gibt es eine moderne Anlage, die auf dem Nachbargrundstück steht. Die Daten werden elektronisch an einen privaten Wetterdienst übertragen. Wer den lokalen Wetterbericht verfolgt, wird feststellen, dass es im Eiskeller immer ein paar Grade kälter ist als in Berlin. Und im Sommer ist es immer heißer. Wissenschaftler erklären das mit dem offenen Gelände und den Sandböden, die sich schnell aufheizen, aber auch schnell an Wärme verlieren.

Der Name Eiskeller geht auf die Zeit um 1870 zurück. Im angrenzenden Falkenhagener See hätten die örtlichen Brauereien Eis geschnitten. Das Eis sei dann den ganzen Sommer im Keller eines Gehöftes im Eiskeller gelagert worden, ohne zu schmelzen, weiß Altbewohner Volkmar Näcke.

Gern hätte man gewusst, was der mittlerweile 60 Jahre alte Erwin S. zu berichten hat. Doch der lehnt am Telefon mürrisch ab: „Ick gebe keine Interviews. Auf Wiedersehen.“ Eins ist sicher: Erwin S. ist schuld, dass wir in den 60er-Jahren mit der Grundschule keinen Klassenausflug in den Eiskeller gemacht haben.