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Archiv-Artikel

„Die Bürger können dafür sorgen“

Die Armut in der Welt kann bis 2015 halbiert werden – wenn die armen Länder die Korruption wirkungsvoll bekämpfen und die reichen Länder endlich 0,7 Prozent ihres Nationaleinkommens für die Entwicklungshilfe ausgeben

taz: Frau Herfkens, wie viele Menschen werden im Jahr 2015 weltweit an Hunger sterben?

Eveline Herfkens: Momentan verfügen 1,2 Milliarden Menschen über weniger als einen Dollar pro Tag, also weniger als das absolute Existenzminimum. Unser Ziel war es, diese erschreckende Zahl zu halbieren. Ob wir das schaffen, hängt ganz davon ab, ob die Staaten ihre Versprechen einhalten, die sie im Jahr 2000 in New York gegeben haben. Sowohl Entwicklungsländer als auch Industriestaaten sind in der Pflicht.

Was müssen sie tun?

Reiche Länder müssen die versprochenen 0,7 Prozent ihres Nationaleinkommens zur Verfügung stellen, arme Länder wirkungsvoll Korruption bekämpfen. Hinzu kommt, dass die Industriestaaten endlich Handelsschranken abbauen sollten, vor allem im Bereich der Agrarsubventionen. Zwei Drittel der Ärmsten der Armen arbeiten in der Landwirtschaft. So lange wir ihre Märkte zerstören, werden sie weiterhin in Armut leben.

Vor 5 Jahren wurde verkündet, dass die Armut bis 2015 halbiert werden soll. Die Chancen dafür scheinen heute eher gering.

Wir sprechen hier über eine Welt mit knapp 200 Staaten. In einigen Ländern gibt es gute Nachrichten, in anderen scheint die Lage aussichtslos. Das größte Problem sind weiterhin die ärmsten Staaten südlich der Sahara. Aber sogar dort ist Erfolg möglich. Immer wenn die Staatsführung verbessert wurde, und immer wenn reiche Staaten spendabel waren, ist es gelungen, Entwicklungen anzustoßen. Es kommt beidseitig darauf an, Versprechen einzuhalten.

Wie bringt man unwillige Staatsführungen dazu, ihre Versprechen einzuhalten?

In den armen Ländern lässt sich die Bevölkerung leichter mobilisieren, als man erwartet. Sie sind es, denen der Schulunterricht verwehrt wird. Und sie sind es, die ihre Jugend durch Hunger und Krankheiten verlieren. In den reichen Ländern hat jüngst der Tsunami gezeigt, welche Kraft Hilfe entwickeln kann, wenn Leid unmittelbar sichtbar ist. Wenn die Menschen in den reichen Ländern sich bewusst wären, wie wenig vonseiten der Industriestaaten nötig ist, um die Millenniumsziele zu erreichen, dann bin ich mir sicher, dass es einen öffentlichen Aufschrei gäbe. Das könnte die Regierungen enorm unter Druck setzen.

Soll also die Zivilgesellschaft dafür sorgen, dass die Ziele erreicht werden?

Die Zivilgesellschaft muss das Gewissen ihrer Regierung sein. In der Vergangenheit wurden UN-Entwicklungsziele immer dann erreicht, wenn die Bevölkerung, Land für Land, mobilisiert werden konnte.

Trotzdem existiert ein Riesenunterschied zwischen Erklärung und Umsetzung der Ziele.

Es ist eine Frage des politischen Willens. Die Welt hat die Ressourcen, die Welt hat das Wissen. Es besteht doch längst internationaler Konsens darüber, was getan werden muss. Das Problem ist, dass Regierungen und Minister nach New York fliegen und wunderschöne Reden halten. Dann fliegen sie heim nach Berlin, Rom oder Washington und vergessen ihre Versprechen. Es sind die Bürger und die Parlamente, die tatsächlich dafür sorgen können, dass die Regierungen ihre Versprechen umsetzen. Wir bei der UNO haben keine Möglichkeit, das zu erzwingen.

Was sind die Vorteile für die entwickelteren Staaten, Armut in armen Ländern zu beseitigen?

Zwei Aspekte sind hier besonders wichtig: Wirtschaft und Sicherheit. In Deutschland gibt es beispielsweise gerade heftige Diskussionen um Handelsbeziehungen mit China, mit seinen 1,2 Milliarden potenziellen Konsumenten. Stellen Sie sich doch einmal vor, was passiert, wenn wir Subsahara-Afrika helfen, sich zu entwickeln. Das ist ein Markt mit 500 Millionen Konsumenten für unsere Importe.

Und die Sicherheit?

Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären: 1998 war ich in Jemen und der Erziehungsminister sagte mir, dass er sehr besorgt sei, weil sich der Staat keinen Grundschulunterricht leisten könnte. Aufgrund dieses Mankos schickten die meisten Eltern ihre Kinder in Koranschulen. Er hatte Sorge, was sie dort tatsächlich lernen würden. Das war Jahre vor dem 11. September 2001. Inzwischen haben wir verstanden, dass das, was in einem kleinen Dorf in Afghanistan passiert, uns treffen kann. Und das eine Hilfe an Jemen von 18 Millionen Dollar pro Jahr für öffentliche Schulen in unserem eigenen Interesse liegt.

Ist die Zeit reif, die Millenniumsziele aufzugeben, einzugestehen, dass sie nicht erfüllbar sind, weil politischer Wille und öffentlicher Druck nicht reichen?

Nein, absolut nicht. Es ist spät, aber nicht zu spät. Wir haben immer noch 10 Jahre vor uns. Es braucht ernsthafte Zugeständnisse vor allem der reichen Staaten, dann können wir immer noch die entscheidenden Maßnahmen veranlassen, um 2015 unsere Zielen zu erreichen.

INTERVIEW: RENÉ STEENBOCK