piwik no script img

Man muss einfach darüber sprechen

Symbolismus des Plattformzeitalters: Wie kein anderes Genre ist K-Pop perfekt auf die Logik von Social Media ausgerichtet und setzt auf das Mitwirken der Fans

Filmen, Posten, Liken und viele Emotionen: K-Pop-Fans beim Seoul Park Music Festival 2023 Foto: Justin Shin/getty images

Von Annekathrin Kohout

Die Geschichte von K-Pop wird oft entlang seiner Erfolge in der westlichen Musikindustrie erzählt. Psys „Gangnam Style“ im Jahr 2012 gilt gemeinhin als der Moment, in dem K-Pop „im Westen ankam“. Es war das erste Youtube-Video, das die Zwei-Milliardenmarke knackte, eine globale Tanzbewegung, die als Meme in den Social Media zirkulierte – ein popkulturelles Großereignis, das sich so perfekt in die Logik des damals aufkommenden Plattformzeitalters einfügte, dass es fast wie dafür gemacht schien. Wobei: Was heißt „schien“? K-Pop war dafür gemacht.

Es folgten weitere Momente: BTS’ Sieg bei den Billboard Music Awards 2017, Blackpink als erste K-Pop-Band beim Coachella 2019, NewJeans, die kaum debütiert, schon für die „Group of the Year“ bei den VMAs nominiert wurden. Immer wieder neue Verkündigungen, dass K-Pop den Westen erobert habe. Das ist eine alte, aber offenbar anhaltende hegemoniale Geste – als müsse ein Hype erst durch die Bestätigung der angloamerikanisch geprägten Musikindustrie legitimiert werden. Dabei ist K-Pop bereits seit Jahren tonangebend: Wie Popkultur im Zeitalter sozialer Medien funktioniert, haben sich Beyoncé, Taylor Swift oder Doja Cat nicht zuletzt von EXO, aespa, BTS, Red Velvet oder Blackpink abgeschaut. Nicht nur politisch scheint die Hegemonie des Westens vorüber – auch popkulturell ist es multipolar geworden.

Mit „K-Pop Demon Hunters“ hat diese Geschichte nun ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht: In unzähligen Reaction-Videos auf den Titelsong „Golden“ wird spürbar, dass sich selbst mit Heavy Metal sozialisierte Väter dem Sog von K-Pop nicht mehr entziehen können. In einigen Comedy-Clips sieht man sie erst irritiert abwinken, dann schmunzelnd die Melodie summen – und schließlich lauthals mitsingen. Wer trotzdem bis vor Kurzem noch glaubte, K-Pop sei maximal etwas für nerdige Teenager, die Idols würden alle gleich aussehen und die Songs sich alle identisch anhören, dem dürfte „K-Pop Demon Hunters“ eine hilfreiche Gebrauchsanweisung zum besseren Verständnis des Genres gewesen sein.

In dem Film stürmt die fiktive Girlgroup Huntr/x tagsüber die Charts mit catchy Hooks und perfekt austarierter Choreografie. Nachts jedoch jagen sie Dämonen. Ihre Waffen? Tanzmoves als Exorzismus-Rituale, Gesang als schützender Barrierenzauber und Fan-Chants als kollektive Energiequelle. Das trifft ins Herz dessen, was K-Pop ausmacht: eine empowernde Kraft, die aus dem Zusammenwirken zwischen Stars und Fans entsteht.

Die rivalisierenden Saja Boys hingegen – eine dämonische Boyband, deren Konzerte als Rituale dienen, bei denen die Seelen der Fans gestohlen werden – verkörpern die bekannten Schatten­seiten der K-Pop-Industrie. Allen voran die Ausbeutung der Künstler:innen, deren Seelen (Kreativität, Freizeit, Privatsphäre) für den Erfolg geopfert werden.

Wie Hollywood nicht ohne das Kino möglich geworden wäre, wäre K-Pop nicht ohne Social Media denkbar. Früh baute die koreanische Unterhaltungsindustrie ein Ökosystem, das auf digitale Interaktion ausgerichtet war. Plattformen wie Lysn ermöglichten direkte Idol-Fan-Kommunikation, Weverse schuf eigene Räume für Fandoms. Videos werden nicht nur geschaut – sie werden zigfach angesehen, geliked, geteilt, geremixt, in Fan Fiction fortgeschrieben oder in Reaction-Videos analysiert und interpretiert. K-Pop-Fans wissen, dass Popularität durch Sichtbarkeit und Sichtbarkeit durch messbare Reaktionen entsteht. Dem eigenen Fansein werden sie deshalb nicht nur durch Käufe von Tonträgern und Merch, sondern vor allem durch das Mitwirken an hohen Klickzahlen gerecht.

Popkultur hat sich durch soziale Medien grundlegend verändert. Im Zeitalter der Massenmedien bestimmten vor allem Institutionen wie Platten­firmen, TV-Sender und Verlage, was gespielt wurde und dementsprechend zum Mainstream werden konnte. Gatekeeper kuratierten und filterten Inhalte vor der Veröffentlichung. Heute entscheidet vor allem viraler Erfolg darüber, was Reichweite erlangt. Ein Youtube- oder Tiktok-Video kann über Nacht Millionen erreichen. Verantwortlich dafür sind vor allem Zuschauer und Fans, die aktiv selbst an den Geschichten und an dem Erfolg ihrer Stars mitwirken.

Sehr früh hat die K-Pop-Industrie verstanden, dass sie nicht einfach nur eine gute Show abliefern muss (was sie trotzdem tut), sondern dass diese möglichst reaktionstauglich sein muss: Choreografien müssen zum Nach­tanzen anregen, Geschichten dazu einladen, sie weiterzuerzählen, Symbole so platziert werden, dass sich Inter­pretationen aufdrängen, über die man sich austauschen möchte. Mein Lieblingsbeispiel? Red Velvets „Feel My Rhythm“ (2022). Da wird Bachs „Orchestersuite Nr. 3 in D-Dur“ gesampelt und Barockmusik mit Hyperpop-Beats und Rap verschmolzen. Die vertraute Bach-Melodie schwebt sanft dahin, bis überraschend ein Bass einsetzt. Klassische Streicherarrangements treffen auf verzerrte Synthesizer. Süße Vocals wechseln sich mit schnellen Rap-Parts ab, während im Hintergrund die ba­rocke Melodie weiterläuft. Im Musikvideo werden Gemälde wie „Ophelia“ von John Everett Millais (1852), „Die Schaukel“ von Jean-Honoré Fragonard (1767–1768) oder Ausschnitte aus Hieronymus Boschs „Der Garten der Lüste“ (um 1500) reinszeniert, all das immer wieder unterbrochen durch Szenen, in denen der Schwanensee von Tschaikowski getanzt wird. Musikalisch ein radikaler Mashup, visuell ein Rätselkabinett – genau diese Kombination macht den Song zum perfekten Reaktionsobjekt. Man muss einfach darüber sprechen und Interpretationen austauschen!

Die berühmt-berüchtigten „Easter Eggs“ von Taylor Swift? Eine Praxis, die im K-Pop kultiviert wurde. Jedes „Comeback“ einer Gruppe oder eines Idols ist ein Rätsel, das es zu lösen gilt. Ein mysteriöses Symbol im Teaser? Innerhalb von Stunden entstehen Theorien, werden Reaction-Videos geschnitten, Memes gepostet. Diese sogenannte Lore-Kultur – Storylines rund um Idole, Gruppenuniversen, fiktionale Geschichten um einzelne Platten – ist kein bloßes Marketing-Gimmick, sondern das Herz von K-Pop. BTS’ Bangtan Universe, aespas Kwangya-Welt oder Stray Kids’SKZ-Lore sind bewusst offen gehaltene Skripte, die sich nur im Dialog mit dem Fandom vervollständigen.

Die erste Gruppe, die eine derart umfassende Erzählung präsentierte, war EXO. Gemäß ihrem fiktiven Universum stammen sie von einem unbekannten Exoplaneten und jedes Mitglied verfügt über übernatürliche Kräfte – von der Fähigkeit, Wasser, Licht, Feuer oder Wind zu kontrollieren, bis hin zu Teleportation und Zeitmanipulation. Diese gehen einher mit Farbzuordnungen, musikalischen und choreografischen Eigenheiten.

Bereits vor der Veröffentlichung ihrer Debüt-EP „MAMA“ erschienen 23 Teaser-Trailer – eine Fragmentierung, die an Stéphane Mallarmés ­Poetik der Suggestion erinnert. In einem Interview mit Jules Huret erklärte Mallarmé, einer der bekanntesten Symbolisten des 19. Jahrhunderts: „Es soll nur Anspielungen geben.“ Das Objekt soll heraufbeschworen werden, um eine Stimmung zu entfalten, die der Betrachter durch Entschlüsseln selbst vervollständigt.

Nicht nur politisch scheint die Hegemonie des Westens vorüber – auch popkulturell ist es multipolar geworden

Im Plattformzeitalter ist das Fragment vor allem eine Einladung zur Beteiligung. Die Bedeutung entsteht nicht im Song selbst, sondern in der kollektiven Entzifferung. Das ist keine Fanservice-Kultur, es ist Co-Kreation. Die Deutung selbst wird zur Performance, die Fans generieren ihrerseits mit ihren Profilen Sichtbarkeit und Kapital (für sich selbst und für ihre Idols).

Was Fans als „EXO-logy“ bezeichnen, die Praxis, sich auf das Geheimnisvolle, Mysteriöse einzulassen, indem man Symbole sucht und interpretiert, ist nichts anderes als digitaler Symbolismus. Jeder View eines Theory-Videos, jeder X- oder Reddit-Thread über Verbindungen zwischen Songs oder Symboldeutungen übersetzt sich in Sichtbarkeit, in Algorithmusrelevanz, in Chartplatzierungen. Symbolismus wird zur perfekten Strategie für die digitale Reaktionskultur: Je mehr Rätsel, desto mehr Engagement. EXOs Erfolg löste, könnte man zugespitzt sagen, eine symbolistische Welle im K-Pop aus. Plötzlich hatte jede Gruppe ihre eigene Lore und auch die westliche Popwelt nahm es zur Kenntnis.

Hier offenbart sich die eigentliche kulturelle Revolution von K-Pop: Er hat die symbolistische Ästhetik des 19. Jahrhunderts in die Logik des 21. Jahrhunderts übertragen. Der entscheidende Unterschied aber ist: Während die Symbolisten das Fragment und das Geheimnis gegen die aufkommende Massenkultur setzten, macht K-Pop sie zu deren Treibstoff. Das unvollständige Werk ist nicht mehr Ausdruck elitärer Verweigerung, sondern inklusiver Teilnahme. In dieser Synthese liegt die vielleicht wichtigste Erkenntnis über die globale Popkultur der Gegenwart: Dass Komplexität und Popularität, Tiefgründigkeit und Viralität keine Gegensätze mehr sind. K-Pop hat bewiesen, dass das eine das andere nicht ausschließt, sondern bedingt. Das Rätsel braucht die Masse, um sich zu entfalten. Es muss nicht gelöst werden. Und die Fans brauchen die unvollständige Erzählung, um sich als Ko-Autoren einer Geschichte zu verstehen, die größer ist als sie selbst und die doch ohne sie nicht existieren würde.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen