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Archiv-Artikel

Nagelprobe für Europa

VON CHRISTIAN RATH

1. Schutz vor Machtmissbrauch: verbindliche Grundrechte

Erstmals erhält die EU einen ausführlichen und verbindlichen Grundrechtekatalog. In 54 Artikeln – von der Würde des Menschen bis zur Unschuldsvermutung – werden die europäischen Bürger vor Machtmissbrauch der EU-Gremien geschützt. In Grundrechte kann nur auf der Grundlage eines Gesetzes eingegriffen werden. Der Eingriff darf im Verhältnis zum Ziel nicht unverhältnismäßig schwer wiegen.

Bisher hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) diverse EU-Grundrechte als Richterrecht formuliert. Dann wurde vor fünf Jahren unter Leitung des deutschen Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog die EU-Grundrechtecharta erarbeitet. Dieses bislang symbolische Dokument wird nun zum verbindlichen zweiten Teil der EU-Verfassung. Gerichte aller Ebenen müssen die EU-Grundrechte beachten, wenn es um EU-Recht geht. Bei Unklarheiten ist der EuGH anzurufen. Eine Verfassungsbeschwerde zum EuGH besteht jedoch nicht.

Bewertung: Eine grundrechtsfreie Zone ist die EU zwar auch bislang nicht. Mit der neuen Verfassung wird der Grundrechtsschutz jedoch viel transparenter.

2. Mehr Legitimation: Das Europaparlament wird gestärkt

Künftig wird das EU-Parlament bei rund 80 Prozent der EU-Gesetzgebung ein Veto-Recht besitzen – doppelt so viel wie bisher. Es bleiben aber Themengebiete wie die Verteidigungspolitik, wo das EP nur angehört wird.

Bewertung: Die direkt gewählte Vertretung der EU-Bürger wird deutlich gestärkt. In der Praxis wird der Rat aber dominantes Gesetzgebungsorgan bleiben.

3. Weniger Blockaden: Der Rat wird effizienter

Die Verhandlungen im Rat, der aus den jeweils zuständigen nationalen Ministern besteht, werden beschleunigt. Die Anzahl der Bestimmungen, die eine Mehrheitsabstimmung vorsehen, steigt von 137 auf 181. Hierzu gehören weite Bereiche der Innen- und Rechtspolitik. Allerdings bleiben 70 Fälle, in denen der Rat weiter einstimmig entscheidet, etwa im Steuerrecht und in der Außenpolitik.

Bei Mehrheitsabstimmungen im Rat ist künftig eine doppelte Mehrheit erforderlich. Sie ist erreicht, wenn mindestens 55 Prozent der EU-Staaten zustimmen, die mehr als 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten.

Bewertung: Die Zunahme von Mehrheitsentscheidungen erhöht die Gestaltungsmöglichkeiten der EU. Es wird weniger faule Kompromisse geben. Die doppelte Mehrheit stärkt das Gewicht bevölkerungsstarker Staaten, insbesondere Deutschlands, und reduziert die Blockademöglichkeiten.

4. Aufgeschoben bis 2014: Die Kommission wird verkleinert

Um die Arbeitsfähigkeit der EU-Kommission zu sichern, wird ab 2014 nicht mehr jeder EU-Staat in der Brüsseler Kommission vertreten sein. Die Zahl der Kommissare soll auf zwei Drittel der Mitgliedstaaten reduziert werden.

Bewertung: Ein Sitz in der Kommission ist vor allem psychologisch wichtig, denn die Kommissare sollen weisungsunabhängig arbeiten und nicht die Interessen ihres Landes vertreten. Die Bedeutung der Kommission ist in den letzten Jahren ohnehin gesunken, weil das Agenda-Setting zunehmend vom Europäischen Rat übernommen wird.

5. Köpfe für die EU: der Präsident und der Außenminister

Der Europäische Rat, der Gipfel der Staats- und Regierungschefs, wählt einen Präsidenten, der zweieinhalb Jahre amtiert. Zudem wählt er auf fünf Jahre einen Außenminister der EU, der einerseits die Ratssitzungen der EU-Außenminister leitet, andererseits Vizepräsident der EU-Kommission sein wird.

Bewertung: Die beiden neuen Posten sorgen für Kontinuität, während übrigens der EU-Vorsitz weiter zwischen allen Staaten rotiert. Viel Handlungsfähigkeit gewinnt die EU-Außenpolitik dadurch nicht, denn in entscheidenden Fragen wird weiter einstimmig abgestimmt. In der Außendarstellung machen sich der Präsident des Europäischen Rates und der Außenminister möglicherweise sogar Konkurrenz.

6. Bewegung von unten: Bürgerbegehren werden eingeführt

Eine Million Bürger aus verschiedenen EU-Staaten können die Kommission auffordern, einen Gesetzentwurf vorzulegen.

Bewertung: Ein interessantes Instrument, das die Bildung einer europäischen Öffentlichkeit anregt und dabei europaweiten Kampagnen ein konkretes Ziel gibt.

7. Symbol für Bürgernähe: Nationale Parlamente mischen mit

Bundestag und Bundesrat sollen künftig in die Kontrolle des schon länger geltenden Subsidiaritätsprinzips einbezogen werden. Dieses Prinzip besagt, dass die EU nur solche Aufgaben übernehmen darf, die die Mitgliedstaaten nicht ausreichend verwirklichen können und bei denen die europäische Ebene besser geeignet ist. In einem Frühwarnmechanismus können die nationalen Parlamente binnen sechs Wochen gegen einen neuen Kommissionsvorschlag protestieren. Hat ein Drittel der nationalen Kammern Bedenken, muss die Kommission ihren Vorschlag noch einmal auf Subsidiaritätsaspekte überprüfen. Bundesrat und Bundestag können künftig den EuGH anrufen, wenn sie glauben, das Subsidiaritätsprinzip sei verletzt.

Bewertung: Das Subsidiaritätsprinzip taugt nur für Sonntagsreden, denn die Leistungsfähigkeit der Mitgliedstaaten ist sehr unterschiedlich. Gut ist, dass die nationalen Parlamente einen Anreiz haben, sich früh mit EU-Rechtsakten zu beschäftigen. So können sie auch inhaltlich Einfluss nehmen. Die neuen Klagerechte verlagern dagegen politische Entscheidungen auf die Richter im EuGH.

8. Panzer für die EU: Die Verteidigungspolitik wird präzisiert

Schon bisher konnte die EU eine gemeinsame Verteidigungspolitik entwickeln. Jetzt werden die Verfahren näher geregelt. Für alle wesentlichen Entscheidungen gilt das Prinzip der Einstimmigkeit. Die Verfassung bietet jedoch verschiedene Mechanismen, wie auch ein Teil der EU-Staaten unter dem Dach der EU bei Rüstungsproduktion oder Militäreinsätzen kooperieren können. Die Mitgliedstaaten werden programmatisch aufgefordert, „ihre militärischen Fähigkeiten zu verbessern“.

Bewertung: Die Verfassung beschreibt nur, was ohnehin bereits passiert. Viele, die die EU als reine Zivilmacht bewahren wollen, lehnen diese Entwicklung prinzipiell ab. Allerdings könnte eine militärische Verflechtung im Rahmen der EU auch nationale Alleingänge erschweren und die Dominanz der USA zurückdrängen.

9. Widersprüchliche Ziele: Appelle in der Sozialpolitik

Für die soziale Sicherheit bleiben im Wesentlichen die Mitgliedstaaten zuständig. Die EU ist dagegen für die Durchsetzung des „freien und unverfälschten Wettbewerbs“ verantwortlich. Damit die soziale Komponente nicht zu kurz kommt, enthält die EU-Verfassung unter anderem Bekenntnisse zur „sozialen Marktwirtschaft“, zur Vollbeschäftigung und zur sozialen Gerechtigkeit.

Bewertung: Wie sozial EU-Politik ausfällt, hängt weiterhin vor allem von den politischen Kräfteverhältnissen ab und nicht von der EU-Verfassung, deren Ziele für jeden etwas bieten.

10. Ein bisschen Transparenz: Die EU wird übersichtlicher

Die bisher fünfzehn Beschlussarten werden auf sechs reduziert, vor allem weil Sonderverfahren in der Außen- und Innenpolitik wegfallen. Die Verfassung spricht nicht mehr von „Verordnung“ und „Richtlinie“, sondern benutzt die vertrauten Worte „Gesetz“ und „Rahmengesetz“.

Bewertung: Manches wird verständlicher. Dennoch bleibt die Verfassung mit 448 Artikeln, 36 Zusatzprotokollen und 50 beigefügten Erklärungen ein juristisches Monstrum. Aber besser ein komplizierter Kompromiss, mit dem alle leben können, als ein kurzer Text, der später nur für Streit sorgt.