piwik no script img

Archiv-Artikel

Diagnosen für aktuelle Debatten

Wolfgang Fritz Haug und seine Koautoren zehren in ihrem „Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus“ von einer „radikal-demokratisch gewendeten kommunistischen Selbstkritik“

VON RUDOLF WALTHER

Es ist ein ehrgeiziges Projekt, das ohne staatliche Förderung auskommen muss. Und es ist dennoch ein anspruchsvolles Unternehmen, das weltweiten Sachverstand versammelt: Die zahlreichen Autoren, zumeist Professoren, stammen unter anderem aus Kuba, Japan, Finnland oder Indien. Elf Jahre nach dem ersten Band des gigantischen Projekts „Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus“ (HKWM) von Wolfgang Fritz Haug erscheint nun der sechste Band, genauer der zweite Halbband von Band 6, der wegen seines Umfangs, 1.762 Spalten, geteilt werden musste. Er vereinigt etwa 80 Artikel von „Imperium“ bis „Justiz“.

Überraschenderweise findet man im HKWM auch Stichwörter, die man nicht erwartet, wie „Jazz“, „Jeans“, „Ich-AG“, „Ironie“ oder „Internet“. Auch das ist ein Hinweis darauf, dass das Wörterbuch das Label „Marxismus“ nicht eng oder gar dogmatisch behandelt, sondern ausgesprochen offen und pluralistisch. Dem Systemzwang, dem die Marx’sche Theorie durch Lenin und vor allem nach Lenins Tod durch die bornierten Hüter der reinen Lehre unterworfen wurde, haben die Autoren des HKWM gründlich abgeschworen. Der Herausgeber Haug spricht – wohl mit Bedacht im Artikel „Instanz“ – offen von der „radikal-demokratisch gewendeten kommunistischen Selbstkritik“, von der das Wörterbuch zehrt. In der Wissenschaft haben Instanzen, allen voran „letzte“ Instanzen, keinen Platz mehr.

Im Artikel „Internationalisierung der Staaten“ weist der Autor nicht nur auf die Aufstände von 1953, 1956, 1968 und 1981 in den mitteleuropäischen Ländern des Warschauer Pakts hin, sondern erklärt, dass der untergegangene Block „letztlich durch Zwang der UdSSR zusammengehalten“ wurde. Ebenso harsch kritisiert ein Autor die Sowjetunion im Artikel „Innovation“.

Gelegentlich fehlt den Artikeln die historische Tiefendimension. So behandelt der Artikel „Imperium“, ohne Gründe zu nennen, ausschließlich das sehr windige Buch von Michael Hardt und Antonio Negri, so als ob es keine antiken Imperien, kein Kaiserreich und kein napoleonisches Empire gegeben hätte. Die Darstellung des Buches von Hardt und Negri in neun Spalten ist insofern luxuriös, als der Autor mit Recht feststellt, es erinnere an die quasi-theologische Argumentation Hegels.

In anderen Artikeln („indische Frage“, „Indiofrage“, „irische Frage“, „Juristen-Sozialismus“) wird die historische Dimension dagegen sachgerecht behandelt. Ebenso informativ wie vorbildlich sind in dieser Hinsicht die Artikel „Judenfrage“ und „Inquisition“. Der zweite spannt den Bogen von der Vorgeschichte bei den Kirchenvätern über das Hochmittelalter und die systematisierte Ketzerverfolgung bis zu den Moskauer Prozessen („moderne Autodafés“) in den 30er-Jahren: „Über Stalinismus zu reden, erfordert daher zuallererst über Verfolgung, Einkerkerung, Folterung und Ermordung von Kommunisten durch den von Kommunisten gegründeten Staat zu reden.“

Fraglich ist, ob eher zufällige Begriffsschöpfungen eines Autors, wie „innere Bourgeoisie“ von Nicos Poulantzas, wirklich als lexikalische Stichwörter taugen. Das gilt nicht für zwar hässliche, aber fachsprachlich unumgängliche Begriffe wie „Inwertsetzung“. In zahlreichen Artikeln gelingt es den Autoren, die Marx’sche Begrifflichkeit (etwa „intensive und extensive Akkumulation“ bzw. „Reproduktion“) kritisch zu analysieren und gleichzeitig weiterzuentwickeln, um sie für die Diagnose der heutigen Verhältnisse brauchbar zu machen.

Das gilt zum Beispiel für den Artikel „Inwertsetzung“. Ökologische Themen spielten in Marx’ Analyse der kapitalistischen Produktionsweise nur eine untergeordnete Rolle. Trotzdem zeigt der Autor des Artikels schlüssig, wie „die Nutzbarmachung neuer Räume und Ressourcen“ – ganzer Kontinente oder des genetischen Codes von Pflanzen – und deren Unterwerfung unter den „Sachzwang Weltmarkt“ (Elmar Altvater) mit der herkömmlichen Marx’schen Wert- und Warentheorie kompatibel gemacht werden können.

Erst die Bio- und Gentechnologie in Verbindung mit globalen intellektuellen Eigentumsrechten“ machten aus Gütern, die während Jahrhunderten als Heilpflanzen oder Saatgut nur auf lokalen Märkten gehandelt wurden, Kapitalgüter, die vom weltweit agierenden Agro-, Chemie- und Medizinbusiness in den globalen Verwertungszusammenhang gestellt wurden – mit entsprechenden ökologischen Folgen.

Viele Artikel bestechen durch ihre Aktualität (z. B. „innere Sicherheit“), was angesichts der Dimension des Unternehmens und der immer drohenden Pannen und Ausfälle nicht selbstverständlich ist.

Nur gelegentlich werden schlüssige Analysen, etwa über die „arbeitenden Armen“ (working poor) oder „Überflüssigen“, durch Anleihen bei der Marx’schen Geschichtsphilosophie überhöht und damit überfordert. So tönt aus dem Schlusssatz des Artikels „industrielle Reservearmee“ der Sound der 70er-Jahre: „Der Übergang zum High-Tech-Kapitalismus“ hat „wachsende Teile der industriellen Reservearmee zu endgültiger ‚Überflüssigkeit‘ vom Standpunkt des Kapitals oder zum Status der working poor verurteilt und ihren Anspruch auf ein lebenswertes Leben und auf Teilhabe an der kulturellen Entwicklung auf eine Vergesellschaftungsform jenseits des Kapitalismus“ verwiesen. Das ist politisch nicht einmal unsympathisch, aber weder historisch haltbar noch kritisch, sondern nur noch anachronistisch.

Jedes Wörterbuch muss eine Auswahl von Stichwörtern treffen, die einerseits nicht zu kleine Bereiche abdecken sollen, andererseits auch nicht zu große, weil die einzelnen Artikel zu lang würden. Insgesamt geht das HKWM einen vernünftigen Mittelweg und differenziert zum Beispiel den riesigen Bereich „Information“, in einen Einführungsteil, dem sechs weitere Teilbereiche folgen: „informationelle Revolution“, „Informationsarbeiter“, „Informationsgesellschaft“, „Informationskrieg“, „Informationsrente“ und „informelle Wirtschaft“. Das gliedert das Wörterbuch übersichtlich, erspart Umwege und erleichtert die Suche.

Die redaktionelle Bearbeitung und formale Vereinheitlichung der Texte ist tadellos, wenn man von manieristischen Marotten absieht: „vorm Faschismus“ oder „unterm Kapital“. Alle Wörterbücher müssen mit Abkürzungen und Siglen arbeiten, um Platz zu sparen. Die Lesbarkeit von Texten leidet jedoch unter Kürzeln wie „KrpÖ“ für „Kritik der politischen Ökonomie“. Vielleicht sollte man künftig auf den einen oder anderen Artikel verzichten und dafür lesbare Abkürzungen verwenden.

Wolfgang Fritz Haug (Hg.): „Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus“, Bd. 6/II. Argument Verlag, Hamburg 2005, 896 Spalten, 79 Euro, Subskriptionspreis: 59 Euro