: Archäologie der Gegenwart
In Neapel, der Stadt am Golf, gibt es einen der größten Märkte für gebrauchte Kleider in ganz Italien. Den „Mercato delle cose usate“ im Viertel Ercolanum. In dieser historischen Ausgrabungsstätte am Fuß des Vesuv gibt es eine minutiöse Archäologie von Kleidungstypen und -stilen
VON LUTZ REDECKER
Eigentlich sieht der Kleinbus recht komfortabel aus, wenn er auch nicht mit jenen Luxusbussen zu vergleichen ist, die auf der Via IV Novembre die Touristen aus aller Welt nach Ercolanum zu den weltbekannten archäologischen Ausgrabungen am Fuß des Vesuv fahren. In jedem Fall ist das Verhältnis der Mitfahrer kommunikativer. Eine mit bunten Plastiktüten, aus denen Gemüse herausdrängt, bepackte Mutter schimpft mit zwei Kindern, während sie ihrem Gegenüber, einem Mittsechziger, von Schulproblemen berichtet. Der Bus nähert sich dem Zentrum von Ercolanum. „I abusivi“ werden sie genannt, jene nicht offiziell zugelassenen Kleinbusse, mit denen man sich hier in der Peripherie Neapels sozusagen steuerfrei befördern lassen kann und die auf ein Zeichen überall halten. So etwa am „Mercato delle cose usate“, dem „Markt der gebrauchten Kleider“ oder einfach „il mercato“, einem der größten Märkte für gebrauchte Kleider in ganz Italien.
Hier, nahe dem Handelstor Griechenlands zum alten Rom, Torre del Greco, werden seit Jahrhunderten fremde Einflüsse übernommen und zugereiste Gruppen assimiliert. So die Senegalesen, die hier und in Torre mit Videos, CDs, Gucci- und Vouton-Taschen handeln, die Albaner im Baugewerbe oder die Kalabrier, Kroaten oder Nordafrikaner in den Gemüseplantagen.
Auf dem Mercato in Ercolanum kommen ganze Zugladungen von Kleidung aus dem Norden an, vor allem aus der Schweiz, Holland und Deutschland. Die Aufteilung, so erfahren wir von Tomaso, einem derjenigen, der mit an der ersten Wahl teilhat, unterliegt fest lokaler Regie. Hier sind es einige Familien, die bereits seit der Zeit der Amerikaner etwas mehr an diesem Handel verdienen und etwas mehr Macht besitzen. Durch die Amerikaner entstand überhaupt erst dieser Markt: Sie brachten gegen Kriegsende tonnenweise Altkleider hierher. Die Aufteilung der Container, die heute wöchentlich auf den Abstellgleisen des Güterbahnhofs entladen werden, ist eine Art Roulette, bei der eine minutiöse Archäologie von Kleidungstypen und -stilen betrieben wird. Hier wird sozusagen rituell die Suche nach authentischen Überresten einer anderen Epoche wiederholt. Irgendwie lässt die Stimmung der Händler am alten Güterbahnhof bei Eintreffen der Ware an eine Aufregung denken, die möglicher Weise unter König Karl III. 1736 bei den Ausgrabungen des antiken Ercolanum die Stadt erfasste.
Das Ergebnis der modernen Archäologie findet sich jeden Vormittag in der Via Pulgiana, wo ein Crossover von Materialien und Formen, unvereinbar Kurioses, längst Vergessenes und Modisch-Ikonenhaftes auflebt. Behütet von nicht weniger ausgefallenen Typen, frappanten Fratzen und noch nicht wegrationalisierten Verkäufern von Pelzmänteln, Tüchern und allen vorstellbaren Kleiderarten und Trachten, einschließlich Schweizer Sanitäterjacken und deutscher Knickerbocker.
Für Alessandro, spezialisiert auf Lederjacken und Adidas-Jogging- und -Tennissachen, ist der Einkauf eine große „lotta“ – ein Losspiel: „Von einer Tonne gehen zwei Fünftel nach Kroatien und an kleinere Händler hier, die alles unsortiert verkaufen.“ Richtig interessant wird es für ihn, wenn Secondhand-Händler aus München, Zürich, London oder der Porta Portese – dem berühmten Kleidermarkt in Rom – kommen und dutzendweise gut erhaltende Lederjacken und Jeans kaufen, die hier lediglich fünf bis zehn Euro kosten. „Siamo mercanti e ci deve guardnar“ – „wir sind halt Kaufleute und der Umsatz muss stimmen“, fährt Gulio, sein Nachbar, mit rauchgefärbter Stimme dazwischen. Auch Fellini sei irgendwann hier in den Siebzigern aufgetaucht, seine Cousine hätte damals eine Statistenrolle bekommen und irgendwann hätte er die halbe Straße in eine kleine Trattoria eingeladen. Hommage an eine verschwindende Wirklichkeit.
Natürlich hat sich einiges verändert. Früher hätte man von der Via Pugliano bis hin zum Lebensmittelmarkt die Verkäufer an ihrer Stimme erkennen können. Damals orientierte man sich eben an diesen „Lockrufen“ der zahlreichen ambulanten Händler, die sich untereinander mit Spitznamen anriefen und der Polizei und dem Staat wenig Respekt zollten, aber umso solidarischer untereinander verkehrten.
Diese Beziehungen leben insbesondere in den Filmen von Toto aus den 50er-Jahren, einer Mischung aus Graucho Marx und Karl Valentin, weiter. „Toto in Farbe“ oder das „Gold von Neapel“ mit Sophia Loren zeigen mit viel Humor den rasanten Weg vom Mythos der „terra dolce“, einer Region des Überflusses in Landwirtschaft und Fischerei, hin zum Diktat des Fabrikzeitalters und industrieller Beschäftigung.
Oder um einen Chronisten aus nördlichen Gefilden vom 28. Mai 1787 zu zitieren: „… so gibt es noch eine Menge kleiner Krämer, welche gleichfalls herumgehen und, ohne viele Umstände, auf einem Brett, in einem Schachteldeckel ihre Kleinigkeiten, oder auf Plätzen, geradezu auf flacher Erde, ihren Kram ausbieten. Da ist nicht von einzelnen Waren die Rede, die man auch in größeren Läden fände, es ist der eigentliche Trödelkram. Kein Stückchen Eisen, Leder, Tuch, Leinwand, Filz usw., das nicht wieder von einem dem anderen abgekauft würde.“ Goethes „sozialwissenschaftliche“ Untersuchungen über das Leben in und um Neapel sind durchaus aktuell. Noch bis Mitte der Siebzigerjahre gab es in der Provinz und in Neapel über dreißigtausend Markthändler: Fischer, Gärtner, Kutscher, Wasser-, Melonen-, Muschel-, Papierverkäufer, Verkäufer für offenen Verkauf von allem und jedem.
Diese Form der sozialen Arbeitsteilung, heute durchaus vergleichbar mit den Szenarien informeller Arbeit in Dritte-Welt-Metropolen, war hier immer unmittelbarer Weg zur Selbsthilfe und selbstbestimmter Aufgabe, in die nicht selten ganze Familien einbezogen wurden.
Am Puls einer oftmals brutalen Wirklichkeit der Gegenwart arbeitet Gigi. Er ist in Ercolanum geboren und hat hier von Bandenkriegen, Schießereien und Drogengeschäften, Schiebereien und Prostitution meistens mit den Verlierern zu tun gehabt. Er betreut als freier und unbezahlter Sozialarbeiter der Kirche, als „Missionario dei Poveri“, Missionar der Armen, neapolitanische, italo-afrikanische, kroatische und hispanische Kids. „Im Moment“, sagt seine Frau Lucia, „haben wir hier eine ‚Minestra maritata“, eine Suppe mit vielen Zutaten. Abends werden einige Kinder abgeholt, andere bleiben bei uns. Sie verstehen sich gut und es geht ihnen hier besser als im Heim.“ Das verwinkelte Haus in der Via degli Orefici ist ein Ort, an dem viele der Jugendliche erstmals ihre Situation reflektieren und eine Distanz zu zerrütteten Elternhäusern und der allgegenwärtigen Kriminalität finden. Sie können jederzeit ihre Sachen packen. Und genau diese Freiheit, – im Vergleich etwa zu den Zwangsmaßnahmen deutscher Jugendämter – wirkt.
Ein Zwölfjähriger kommt mit einer Vespa auf dem Hinterrad balancierend aus einer Nebenstraße geflitzt. Gigi ruft lachend einige Worte nach. „Wer die besten Stunts bringt, ist Sieger. Wenn der Drang nach Anerkennung dieser 14- bis 16-Jährigen immer auf die Roller projiziert würde, wären wir schon viel weiter. Leider ist der Wichtigste meistens der, der in Kürze das meiste Geld zusammenbekommt, egal wie.“ Arbeitsplätze oder besser Ausbildungsplätze seien Mangelware und das Grundproblem, so der 56-Jährige, der die Gosse nicht nur vom Erzählen kennt.
Eigentlich war die Via degli Orefici in der Antike ein Vergnügungsviertel, wo der Reichtum der Goldschmiede, die in dieser Straße arbeiteten, für eine gewisse Prosperität sorgte, aber zugleich Prostitution und Drogenhandel förderte. Tatsächlich gibt es auf vielen Fresken der direkt vor uns liegenden Ausgrabungsstätten zahlreiche Hinweise auf den ausschweifenden Lebensstil der ehemaligen Bewohner. Heute findet man die Fresken zum Teil in der Galleria Nazionale in Neapel. „Die Archäologen würden am liebsten unser ganzes Viertel unterhalb von Santa Caterina aufreißen und alte Mauern freilegen“, fährt Gigi fort. Doch zum Glück fehlt das Geld.
Pompei und Ercolanum, Ausgrabungsstätten am Fuß des Vesuv. Weitere Informationen unter: www.pompeiisites.org/ Öffnungszeiten: 8.30–19.30 Uhr (1. 4.–31. 10.), 8.30–17 Uhr (1. 11.–31. 3.). Eintrittspreise: 10 Euro pro Person, ermäßigt 5 Euro, freier Eintritt für Personen unter 18 und über 65 Jahre.Anfahrt: Mit dem Auto über die Autobahn A 3 Napoli–Salerno, Pompei (Ausfahrt Pompeji), Ercolanum (Ausfahrt Ercolano). Mit der Bahn auch bequem zu erreichen von Messina