: Die Kehrseite der Medaillen
China räumt bei den Tischtennis-Weltmeisterschaften im eigenen Land sämtliche Titel und den Großteil der anderen Medaillen ab und langweilt damit selbst die eigenen Fans
SCHANGHAI taz ■ „Tischtennis ist in anderen Ländern nur ein Sport unter vielen – hier ist er der Stolz einer ganzen Nation“, unterstreicht Chinas Cheftrainer Cai Zhenhua. Die Dominanz der Pingpong-Artisten aus dem Reich der Mitte währt nun schon mehr als vier Jahrzehnte. Bei mancher Weltmeisterschaft kungelte die Kommunistische Partei früher vorher aus, welche Medaillen man anderen, befreundeten Nationen „schenkt“. Gold blieb jedoch China vorbehalten – oft ausschließlich, etwa 1995 bei der letzten Heim-WM in Tianjan. Dass es gestern in Schanghai lediglich fünf anstatt sieben Goldmedaillen wurden, hat seine Ursache schlicht darin, dass die Team-Weltmeisterschaften inzwischen getrennt ausgerichtet werden. Chinas Tischtennis-Asse hatten monatelang so hart wie noch nie dafür trainiert, alle Titel abzuräumen und damit zu Hause die 100. Weltmeisterschaft unter Dach und Fach zu bringen.
Alle Endspiele mit Ausnahme des Herren-Doppels, in dem Timo Boll und Christian Süß unterlagen, fanden ohne Betreuer an der Box statt – das Zeichen, dass nur noch Chinesen in den Finals standen. Im Mixed durften sich die Trainer bereits ab dem Halbfinale auf der Tribüne langweilen. 15 der 20 Plaketten bleiben im Reich der Mitte. Die zwei Bronzemedaillen für den kleinen Bruder-Verband Hongkong, der Chinas Schriftzug auch auf den Trainingsanzügen trägt, nicht eingerechnet. Deutschland nimmt mit einer Silbermedaille unangefochten Platz zwei in der Medaillenwertung ein!
Die erste von 95,5 Goldmedaillen (eine wurde im Doppel zusammen mit Nordkorea gewonnen) holte Rong Guotuan 1959 in Dortmund. Der erste chinesische Weltmeister überhaupt in irgendeiner Sportart löste einen Boom aus. Mehrere hundert Millionen Chinesen frönen in ihrer Freizeit auf improvisierten Platten, in öffentlichen Tischtennishallen oder mehr als tausend Tischtennisakademien dem Pingpong. Tischtennis ist staatlich verordneter Schulsport. Zudem leistet sich jeder Betrieb, der etwas auf sich hält, ein Firmenteam. Rund 5.000 Profis sollen so in Sold stehen. Zum Vergleich: In der mit rund 690.000 Mitgliedern zweitgrößten Tischtennis-Föderation verdienen keine zwei Dutzend gebürtige Deutsche ihr Brot mit dem kleinen Zelluloidball. Deutlich weniger als die Entwicklungshelfer aus China, die ins Ausland dürfen, weil sie in der Heimat nicht in die absolute Spitze gelangen.
Die zweite Reihe ist indes gut genug, um die Nationalmannschaften in aller Welt zu füllen. Dass in der Runde der letzten 32 bei der WM diesmal nur vier männliche und elf weibliche Auslands-Chinesen standen, liegt auch an den gestiegenen Einkommen in der Heimat. Ein durchschnittlicher Nationalspieler erhält allein von seinem Klub ein für chinesische Verhältnisse astronomisches Jahressalär von etwa einer Million Yuan (knapp 100.000 Euro).
Ein paar kleinere Probleme haben die Chinesen allerdings auch. Der Nationalsport rutschte in der Beliebtheitsskala hinter Fußball und Basketball auf Rang drei ab. Der 2,26-Meter-Riese Yao Ming, der in der amerikanischen NBA bei den Houston Rockets spielt, sorgt dafür, dass viele Kinder Basketball-Shirts und -Hosen tragen. Und vor allem der eigene Erfolg macht der Pingpong-Supermacht zu schaffen. Zum einen, glaubt Cheftrainer Cai Zenhua, „piesackt der Weltverband China mit ständigen Regeländerungen“, um die wenig publicityträchtige Monotonie zu beseitigen. Zum anderen drückt die Dominanz selbst die Stimmung der eigenen Fans. Der Hexenkessel Shanghai Gymnasium kochte nur unter dem Gebrüll von 10.000 chinesischen Kehlen, wenn noch die ein oder andere Langnase mitmischte.
„Das Ausscheiden von Wang Hao gegen Michael Maze tut mir für ihn Leid – aber für das Turnier ist es gut, wenn auf einen chinesischen Sieg nicht zwangsläufig der nächste folgt“, meinte der Schanghaier Student Lou Jing nach dem 4:0-Sensationssieg des Dänen, dem er ein noch spektakuläreres 4:3 über Hao Shuai nach Abwehr von drei Matchbällen folgen ließ. Der dritte Chinese, Ma Lin, beendete dann allerdings mit einem 4:0 den Höhenflug des Düsseldorfer Bundesligaspielers und folgte Wang Liqin (4:1 über Oh Sang Eun/Südkorea) ins Endspiel. Der wichtigste Titel, der im Herren-Einzel, den 2003 in Paris sensationell der Österreicher Werner Schlager gewonnen hatte, war nach chinesischem Selbstverständnis endlich wieder daheim.
HARTMUT METZ