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Archiv-Artikel

„Klammer des Vergessens“

INTERVIEW DOROTHEA HAHN

taz: Was ist anders in Frankreich am Ende des Zweiten Weltkriegs?

Georgette Elgey: Das Land hat ein Trauma ohnegleichen hinter sich. Frankreich war Siegermacht von 1918. Es war ein Schock, dass die Armee in wenigen Wochen total besiegt, die Bevölkerung auf der Flucht war.

Frankreich ist 1944 vielfach gespalten. Es gibt eine starke Kommunistische Partei, andererseits eine Rechte, von der ein Teil kollaboriert hat und ein anderer Teil – unter General de Gaulle – Widerstand geleistet hat.

Die KPF ist sehr stark. Dann gibt es eine Reihe von Leuten, die kollaboriert haben. Sowohl rechts wie links, übrigens. Denn weder die Résistance noch die Kollaboration entsprechen den klassischen politischen Einstufungen.

Die Spaltung der französischen Rechten war schon in den 30er-Jahren deutlich. Da gab es den Slogan: „Lieber Hitler als die Volksfront“.

Aber ein Teil der Rechten hatte einen nationalistischen Reflex. Sie haben nicht kollaboriert und standen Vichy feindlich gegenüber. Sie wollten die Besatzer verjagen.

Wie sind die Gefühle zwischen den Franzosen der verschiedenen Lager?

Wie in allen Krisensituationen gibt es Leute, die sich stark engagiert haben – in einem Lager oder dem anderen. Und eine Mehrheit, die versucht hat, zu überleben. Alle sind froh, dass das nationale Territorium befreit ist.

Da gehen Sie aber schnell über die Säuberungen hinweg.

Das hätte zehnmal schlimmer werden können. Es hat ein paar standrechtliche Hinrichtungen gegeben. Aber die republikanische Ordnung ist schnell wiederhergestellt worden.

Die politische Konstellation im Nachkriegsfrankreich ist jener in Griechenland ähnlich: Starke KP. Starke Rechte. Große US-Interessen. Wie kommt es, dass in Frankreich kein Bürgerkrieg ausbricht?

De Gaulle schafft es, die Résistants um sich zu sammeln. Er hat die Anerkennung der Alliierten. Und es gibt sofort eine reale Macht im Land: die provisorische Regierung der Republik. Eine kommunistische Machtergreifung hätten die Amerikaner nicht toleriert. Außerdem will das die kommunistische Basis selbst nicht.

Woher wissen Sie das?

Maurice Thorez (langjähriger Generalsekretär der KPF, d. Red), hat mir gesagt, dass nur wenige die Revolution wollten. Die meisten Kommunisten wollten vor allem, dass das Leben weitergeht. Frankreich ist nicht Griechenland. Es gibt eine legale Regierung. Darin sind auch kommunistische Minister.

Aber die KPF ist die stärkste Partei am Kriegsende.

Sie hat ein Viertel der Wählerstimmen. Die Kommunisten selbst setzen auf den legalen Weg an die Macht. Das ist die Taktik der KPF. Bis es zwei Jahre später zum Bruch der Regierung kommt.

Die Amerikaner misstrauten auch de Gaulle. Sie wollten verhindern, dass er an die Macht kommt.

Sie wollten eine amerikanische Militärregierung in Frankreich einsetzen. Sie hatten dafür schon das Spezialgeld gedruckt. Aber Churchill unterstützt de Gaulle. De Gaulle hat die Armee hinter sich. Und die Amerikaner wollen kein kommunistisches Frankreich.

Welche Kräfte bilden die erste Regierung?

Drei Parteien. An der Spitze die KPF, dann die sozialistische SFIO und die MRP, sie ist bei der Befreiung, als die Rechte diskreditiert war, von linken und zentristischen Christen gegründet worden.

Wie schafft es de Gaulle, der nicht aus der stärksten Formation kommt, an die Macht zu kommen?

Wegen der Sozialisten. Die wollen auf gar keinen Fall eine kommunistische Macht. Mit ihnen ist das unmöglich. 1947 sind sie es auch, die die Kommunisten aus der Regierung schmeißen.

Was sind die Prioritäten der ersten Regierung?

Für de Gaulle ist das Wichtigste, dass Frankreich seinen Platz in der Welt zurückbekommt.

Heute verbinden die Franzosen jene Epoche der Libération mit großen sozialen Fortschritten: die Einführung einer umfassenden Sozialversicherung – mit Krankenversicherung, Rente und Arbeitslosengeld.

Damals war die Befreiung das Wichtigste – kein besetztes Land mehr zu sein. Aber 1944 wird tatsächlich das moderne Frankreich geboren. Die Nationalisierungen. Die Sozialversicherung. Das Frauenwahlrecht. Zugleich entsteht das Plankommissariat, das ab 1947 die Kredite aus dem Marshallplan auf Industrie und Wohnungsbau verteilt, und es beginnt das französische Atomabenteuer.

Wie lässt sich das Weltmachtstreben mit den vorausgegangenen Traumata vereinbaren: die Niederlage von 1940 und die Tatsache, dass die Franzosen nicht in der Lage waren, sich allein zu befreien?

De Gaulle schafft es, die Franzosen davon zu überzeugen, dass das nicht existiert hat. Dass sie immer noch ganz vorne sind.

Kollektive Verdrängung?

Es gibt eine enorme Klammer des Vergessens.

Spielt die Résistance schon eine Rolle im kollektiven Bewusstsein?

De Gaulle erklärt, dass alle Franzosen Résistants waren. Das ist schmeichelhaft.

Gibt es ein französisches Misstrauen gegen die USA?

Nicht im Geringsten. De Gaulle verlässt die Regierung 1946. Er hat immer gewollt, dass Frankreich eine Rolle zwischen Ost und West spielt. Frankreich ist im Lager der Alliierten des Westens. Seit 1947, als die Kommunisten aus der Regierung gejagt werden, gibt es ein antikommunistisches Klima. Vor allem nach dem Februar 1948 in Prag. Die französische Regierung hat Angst, dass die Kommunisten so etwas auch in Frankreich versuchen könnten.

Aber de Gaulle sorgt dafür, dass Frankreich aus der Nato austritt.

Das ist sehr viel später. In den ersten Nachkriegsjahren gibt es eine totale Anlehnung an den Westen. Damals gibt es auch Leute, die denken, dass man Europa aufbauen muss. Um zu verhindern, dass der deutsch-französische Konflikt wieder losgeht. Das ist die Geburt der Kohle- und Stahlunion. Die Anfänge der EU.

Warum sucht von allen Nachbarländern ausgerechnet Frankreich diese Nähe zu Deutschland?

Es hat am meisten unter den Konflikten mit Deutschland gelitten. Es gab drei aufeinander folgende Kriege: 1870. Dann 1914–18. Dann 1939–45. Gewisse Franzosen wollen verhindern, dass das wieder losgeht. Das ist ein Wille zum Frieden.

Musste erst ein Krieg stattfinden, damit Europa entstehen konnte.

Ohne Zweiten Weltkrieg hätte es vielleicht keinen europäischen Aufbau gegeben.

Wie beurteilen die Kommunisten die deutsch-französische Annäherung?

Sie sind ab 1947 systematisch in der Opposition. Alles, was die Regierung tut, ist schlecht. Als 1952 bis 1953 die Debatte über die europäische Armee stattfindet, sind sowohl die Kommunisten als auch die Gaullisten dagegen.

Die Gründer der EU sind ausnahmslos Konservative.

Für sie sind Kommunisten fast so furchtbar wie Nazis. Sie wollen verhindern, dass sie an die Macht kommen. Aber sie wollen Europa nicht aus Antikommunismus aufbauen.

Warum ist keine Frau unter den Gründern?

Es gibt kaum Frauen in der Politik. Dabei haben sie eine große Rolle in der Résistance gespielt. In Frankreich bekamen die Frauen erst 1944 das Wahlrecht.

Wollen die Gründerväter auch ein militärisches Europa?

Nach dem Koreakrieg von 1950 befürchten die Europäer, dass Moskau sie attackieren will. Und sie wissen, dass die Amerikaner Westeuropa nicht ohne Beteiligung der Westdeutschen verteidigen werden. Aber die Franzosen wollen keine deutsche Wiederbewaffnung. Sie wollen die „Communeauté européenne de défense“ gründen, um zu verhindern, dass die Deutschen sich wieder bewaffnen. Die Franzosen haben ziemlich lange gebraucht, um die Amerikaner von ihrer Idee zu überzeugen. Am Ende ist der Vertrag unterzeichnet. Aber nach zwei Jahren verweigern die Franzosen die Ratifizierung.

Was ist wichtiger: die Annäherung an Deutschland oder Europa?

Deutschland. Es geht darum, einen neuen Krieg zu verhindern. Eine europäische Vision haben nur wenige. Die Anfänge spielen sich vor der totalen Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit ab. Als der Römische Vertrag 1957 unterzeichnet wird, bringt die Zeitung Le Monde nur ein paar Zeilen dazu.

Was ist der größte französische Fehler bei Kriegsende?

Nicht zu verstehen, dass die Dekolonisierung ein unvermeidbares und breites Phänomen war.

Was ist der Haupterfolg?

Der Eintritt von Frankreich ins 20. Jahrhundert. 1945 ist Frankreich noch eine landwirtschaftliche Macht: In der IV. Republik wird es eine Industriemacht. Im Äußeren ist der europäische Aufbau der größte Erfolg.