: Lösemittel vernebeln die Gerichte
Allen medizinischen Erkenntnissen zum Trotz: Die Änderungen offizieller Krankheitsmerkblätter kommen vielleicht gar nicht bei den Richtern an. Damit würde die Anerkennung vieler Chemie-Geschädigter als berufskrank weiter die Ausnahme bleiben
VON BRITTA BARLAGE
Der Skandal um die Anerkennung von beruflich Erkrankten vor Gericht geht weiter. Wer durch chemische Lösemittel chronisch krank wurde, hat trotz kürzlich erkämpfter Änderungen nach wie vor kaum Chancen auf eine Rente. „Progression spricht gegen Lösemittel als Ursache“ – so sprach 2000 ein Gutachter dem chemiekranken Peter Röder den Anspruch auf eine Berufsunfallrente ab. Progression heißt: Wer krank bleibt, wenn er nicht mehr mit Lösemitteln arbeitet, erhält nichts.
Die Symptome von Röders Krankheit – zum Beispiel schwer wiegende Nervenschäden – waren nicht zurückgegangen, nachdem er nicht mehr mit gefährlichen Holzschutz- und Lösemitteln wie PCP und Lindan arbeiten musste, sondern hatten sich verschlimmert. Der Gutachter behauptete, dass dies gegen eine Vergiftung durch Lösemittel spreche. Er bezog sich dabei auf das Merkblatt zur Berufskrankheit durch Lösemittel (BK 1317). Die Folge: Noch heute muss Röder vor Gericht dafür kämpfen, als Berufskranker anerkannt zu werden. Eine Unfallrente zahlt ihm die Berufsgenossenschaft bis heute nicht.
Dabei ist in zahlreichen Studien wissenschaftlich belegt, dass sich die Nervenschäden sehr wohl verschlimmern können. Deshalb hat das Bundesministerium für Gesundheit das Merkblatt im März endlich geändert –nach jahrelangem Kampf der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IKU), die Röder gegründet hat.
Doch die IKU sieht weiteren Handlungsbedarf: So wird der ausführliche Report zur Berufskrankheit 1317, der von den Berufsgenossenschaften als Empfehlung für die Gutachter herausgegeben wird, nun schon seit mehr als zwei Jahren überarbeitet. Dabei ist die neue Fassung dringend nötig. Denn der alte Report ist – wie das alte Merkblatt – in ganz wesentlichen Punkten falsch. Zum Beispiel wird behauptet, dass Untersuchungen „bei beruflich bedingten Erkrankungsfällen (…) keine Progredienz“ [Fortschreitung, Red.] gezeigt hätten. Die Autoren des Reports zitieren zum Beweis unter anderem eine skandinavische Studie von 1988. Die Studie nennt aber etliche Krankheitsfälle, in denen die Symptome blieben oder sich verschlimmerten.
„Der Report ist wie das Merkblatt manipuliert“, sagt Röder. Er befürchtet, dass der alte Report noch immer in den Regalen der Gerichtsgutachter und Richter steht und womöglich zur Begutachtung herangezogen wird. Zudem hat er Zweifel, dass der neue Report in allen Punkten dem Stand der Wissenschaft entsprechen wird. Denn viele der beteiligten Autoren haben auch den alten Report geschrieben.
Außerdem liegt Röder ein aktuelles Gerichtsgutachten vor, das seine Zweifel nährt. Der Gutachter ist einer der derzeitigen Autoren und bezieht sich in seiner – für den Kranken ungünstigen – Beurteilung schon auf den neuen Report. „Das darf eigentlich nicht sein“, sagt Andreas Baader, Sprecher des Hauptverbandes der Berufsgenossenschaften. Denn wie der neue Report formuliert sein wird, stehe noch nicht fest, auch nicht, wann er erscheint. Der Report befindet sich derzeit in der Abstimmung mit den medizinischen Fachgesellschaften. Das ist immerhin ein Fortschritt. Der alte Report wurde, so Baader, nicht mit den Fachgesellschaften abgestimmt.
Baader versichert, dass der wissenschaftliche Stand nun korrekt wiedergegeben werden soll. Bleibt zu hoffen, dass dies schnell geschieht – damit mehr Geschädigte eine Chance auf Anerkennung der Berufskrankheit bekommen. Seit 1997 wurden 81 Fälle anerkannt, 1.754 wurden abgelehnt.