: Bühnenstars aus allen Klassen
taz-Serie „Engagement macht Schule“ (Teil 1): Die Erika-Mann-Grundschule in Wedding liegt mitten im sozialen Brennpunkt. Trotzdem wird hier erfolgreich Schule gemacht – mit Hilfe des Theaterspiels
von SABINE AM ORDE
„Meine Beine sind so schwer“, klagt der Stier. „Eine Massage täte gut“, seufzt die Katze. „Ein paar Fliegen wären nicht schlecht“, stöhnt der Frosch. Mit hängenden Köpfen schleichen 20 Drittklässler, die mit bunten Tiermasken verkleidet sind, durch den Raum. Niemand rempelt, niemand lacht, niemand verhaspelt sich beim Text. „Hört auf zu jammern“, ruft plötzlich ein Junge mit einer Tapirmaske, der mit drei anderen Kindern auf einem Podest in der Ecke der Aula steht. „Wir haben Wichtigeres zu tun.“ Die Tiere, so hat es bereits Erich Kästner beschrieben, haben sich zu einer Konferenz versammelt, um das Leben der Menschenkinder zu verbessern.
Kästners Buch ist die Grundlage für das Theaterstück der Klasse 3c, Textvorlage ist es nicht. Die hat die Klasse selbst entwickelt. Zwei Stunden pro Woche steht in der Erika-Mann-Grundschule in Wedding das Theaterspiel bei allen Klassen auf dem Stundenplan. Da werden Stücke erarbeitet, geprobt und schließlich beim Theaterfestival der Schule im Puppentheater Schaubude auf eine richtige Bühne gebracht. „Das ist einer der Höhepunkte im Jahr“, sagt Schulleiterin Karin Babbe.
Doch beim Theater geht es nicht nur um das gemeinsame Event, dass die „Schulfamilie“, von der Babbe gerne spricht, zusammenschweißt. „Wir haben nach einem ganzheitlichen Ansatz für den Spracherwerb gesucht und sind auf das Theaterspiel gekommen“, erklärt die engagierte und energische Frau. Dadurch, dass die Kinder den Text selbst entwickeln, sich ihre Rollen erarbeiten, eignen sie sich Sprache an. Und entwickeln gleichzeitig ihre Persönlichkeit.
Manchmal geht das sogar mit dem, was den meisten Kindern besonders viel Spaß macht: mit Fernsehen. Die SchülerInnen der 3c haben sich acht Tage lang die Nachrichten im Kinderkanal angeschaut und aufgeschrieben, was sie am meisten bewegt. Daraus ist die Kritik der Tiere an den Menschen entstanden, die sie auf ihrer Konferenz formulieren. Es geht um Krieg und Kindersoldaten, um Mädchen, die nicht zur Schule gehen dürfen, und Kinder, die arbeiten müssen, damit die Familie überleben kann. „Wir haben die Sätze korrigiert und manchmal auch vorgeschlagen, es ganz anders aufzuschreiben“, sagt Lehrerin Uta Klotz, die auch Diplompädagogin mit dem Schwerpunkt Spiel und Theater ist. „So entwickelt sich Sprachkompetenz – und zwar nachhaltiger als im Deutschunterricht allein.“
Der aber ist eng verknüpft mit dem Theaterspiel. Aylin (Name geändert) aus der 3c zum Beispiel hat Schwierigkeiten mit den Artikeln, bei den Proben hat sie stets der statt das Känguru gesagt. „Die Deutschlehrerin hat sich gemeinsam mit ihr noch mal mit den Artikeln beschäftigt“, sagt Klotz. „Und wir haben den Text immer wieder geprobt.“ Jetzt vertauscht Aylin der und das nicht mehr. „Sie hat Ehrgeiz entwickelt, auf der Bühne wollen eben alle gut sein.“
Sprachprobleme wie Aylin haben viele Kinder hier. Die Erika-Mann-Grundschule, die hinter dem Leopoldplatz liegt, ist ziemlich genau das, was man Schule im sozialen Brennpunkt nennt: Die gut 400 SchülerInnen stammen aus 16 Nationen, 80 Prozent haben eine nichtdeutsche Muttersprache, viele von ihnen können weder die eine noch die andere Sprache halbwegs gut. „Doppelte Halbsprachigkeit“ nennt Schulleiterin Babbe das.
Mehr als die Hälfte der Eltern sind arbeitslos, zwei Drittel leben unterhalb der Armutsgrenze. Es sind Familien, die man im Fachjargon bildungsferne Elternhäuser nennt – und die häufig zur Erklärung dafür herangezogen werden, warum Berliner SchülerInnen bei Vergleichsstudien schlecht abschneiden. Dass dies so sein muss, das wollte das Kollegium der Erika-Mann-Grundschule nicht hinnehmen. Es hat sich auf den Weg gemacht, eine Schule zu schaffen, die allen Kindern eine Chance gibt. Die Ausgangsbedingungen waren gut: Die Erika-Mann-Grundschule ist 1996 aus einer Schulteilung hervorgegangen, weil die alte Lehreinrichtung schlicht zu groß geworden war. Damals konnten die LehrerInnen entscheiden, ob sie bei der alten Schule bleiben oder zur neuen übersiedeln wollten. „Die Lehrer, die etwas bewegen wollten, haben damals gewechselt“, sagt die Schulleiterin, die von außen dazukam.
Seitdem hat sich vieles verändert: Die Schule hat mit dem Theaterspiel begonnen. Sie hat die verlässliche Halbtagsgrundschule von halb 8 bis halb 2 eingeführt. Den 45-Minuten-Unterrichtstakt abgeschafft. Ein Schülerparlament eingerichtet. Sie hat Partner in die Schule geholt: die Buchhandlung und die Wohnungsbaugesellschaft vor Ort, die Berliner Philharmoniker und Frido Mann, den Neffen der Schauspielerin und Autorin Erika Mann, der der Schule ihren Namen gab. Und sie hat – in Zusammenarbeit mit einem Architekturprojekt der Technischen Universität – die Schulflure ganz wunderbar gestaltet. Die bislang nüchternen Räume erzählen jetzt die Geschichte des Silberdrachens, eine Geschichte von Bewegung und Licht. Das ist nicht nur schön, sondern auch praktisch: Die Flure sind mit ausklappbaren Möbeln bestückt, an denen man sitzen und arbeiten kann. Im Treppenhaus gibt es zudem den „Riesenbrumsel“, eine harfenähnliche Klangkonstruktion, bei der die Töne im Erdgeschoss tief sind und nach oben immer höher werden.
Auf eine Renovierung aus Bezirksmitteln hätte die Schule sicher noch Jahre warten müssen. Das Geld hat die Schulleiterin, die sich durchaus auch als Managerin versteht, nach zahlreichen vergeblichen Anträgen schließlich beim Quartiersmanagement locker gemacht. Damit ist sie ihrem Ziel, eine „Leuchtturmschule“ zu schaffen, „die die Straßen um uns herum ein bisschen erhellt“, wieder etwas näher gekommen.
Längst bleiben Familien, die sonst wegziehen würden, wegen der Schule im Kiez. Das gilt sowohl für die türkische als auch für die deutsche Mittelschicht. „Wir fühlen uns hier einfach zu Hause“, sagt Kadriye Büyük, deren Sohn die dritte Klasse besucht, und meint die Schule damit. „Wir haben übers Wegziehen nachgedacht, als die Kinder in die Schule kamen“, sagt auch Werner Lützow, der zwei hochbegabte Söhne auf der Schule hat. Aber das pädagogische Konzept, Schulleiterin und Kollegium haben die Eltern überzeugt. Und: „Deutsche Kinder leiden hier nicht unter der Situation, sie werden sehr gut gefördert“, da ist sich der Vater sicher.
Bestärkt werden seine eigene Erfahrungen durch die Ergebnisse der Vergleichsarbeiten in den Klassen 2 und 4, die im vergangenen Jahr überall in Berlin und zum Teil auch in sechs anderen Bundesländern geschrieben wurden. Dabei liegt die Erika-Mann-Grundschule klar über dem Berliner Durchschnitt. Das gilt auch, wenn die deutschen Kinder allein betrachtet werden. Ginge es nach der sozialen Herkunft der Erika-Mann-SchülerInnen, müssten sie eigentlich deutlich unter dem Schnitt liegen.
Das gute Abschneiden dürfte auch Ergebnis der starken Binnendifferenzierung sein. Die Klassen 2 a und b machen im Deutschunterricht gerade gemeinsam ein Leseprojekt. Je nachdem, wie gut die Kinder lesen können, bearbeiten sie dabei das schwere Buch über einen Drachen oder ein leichteres, das die Abenteuer eines Schweinchens erzählt. Oder sie lesen eine abgespeckte Version des Schweinchen-Buchs mit Bildern als Lesehilfen im Text. „So können sich alle weiterentwickeln“, sagt Babbe. Unterstützt werden die Zweitklässler dabei von vier Lehrkräften. „80 Prozent des Unterrichts ist doppelt gesteckt“, darauf ist die Schulleiterin stolz. „Aber das sind nicht nur Lehrer.“ An der Erika-Mann-Grundschule gehen Erzieherinnen, Sonderpädagogen und auch eine Musik-, eine Werkzeug- und eine Computerassistentin, die über Arbeitsamtsmaßnahmen an der Schule sind, in den Unterricht. „Das sind große Hilfen, wenn sie gut betreut werden.“
Drei Preise hat die Schule bereits gewonnen, zuletzt bei einem Integrationswettbewerb von SPD-Innenminister Otto Schily. Doch Babbe ist sich sicher: „Wir zaubern hier nicht. Andere Schulen könnten das genauso machen.“ Und warum tun sie es nicht? „Manche stehen eben noch nicht mit dem Rücken zur Wand“, sagt die Schulleiterin, die ihre eigene Position für eine sehr zentrale hält. SchulleiterInnen, da ist sie sich sicher, brauchen eine Vision. Sie müssen Kollegium und Eltern ins Boot holen. „Und genau da“, sagt Babbe, „da hapert’s ganz oft.“