: Unter Tanzteebeuteln
Seniorenschwof bei Möbel Erbe in Hanau: Fit & Fun auf elastischen Beinen
Hanau-Steinheim, Gewerbegebiet. Hierhin hat sich Gott erbrochen, mitten im Herzen Deutschlands.
Am Rande von Hanau-Steinheim erheben sich die durch Glaskuppeln und -brücken verzierten, beide Seiten der Otto-Hahn-Straße säumenden Funktionalkathedralen des größten SB-Möbelmarktes Deutschlands. Hört man den Straßennamen Otto-Hahn-Straße, weiß man in dieser Gegend, was die Stunde geschlagen hat. Bei Möbel Erbe schlägt sie jeden Dienstag besonders laut.
„Alles bei Erbe“ – so kommentiert das Unternehmen seine elaborierte Philosophie. Alles, das sind die „ausgezeichneten Preise“, und das sind die einmal wöchentlich stattfindenden Tanztees mit Wernher O. am Playbackschlagercomputer, mit Holger M. oder mit: Schmidtchen Schleicher.
„Herzlich willkommen in unserer Erbe-Cafeteria“, begrüßt ein Schaukasten mit Weißbierwerbung am Eingang neben dem Eurostore die ersten Gäste. „Auch bei Veranstaltungen ist der Eintritt frei“, ergänzt ein Zettel in einer Klarsichthülle. Das lassen sie sich nicht einmal sagen. Um Punkt 15 Uhr ist der aus Plastik, Pressspann und allerlei gewagten Farben zwischen Acrylorange und Munterblau komponierte Flachbau verheißungsvoll gefüllt. Nur ein paar verspätete Mittagspäusler und eine Gruppe Behinderter ziehen ein Bad in der Frühlingssonne dem Bad im achtsam wogenden Meer der Schwofenden vor.
Nun, Meer ja nicht. Aber 200 vergnügungswütige Senioren sind es schon, die zu „So ein Mann“ und „Schmidtchen Schleicher“ die erste flotte „Sohle“ aufs Parkett legen und zeigen, was eine Foxtrott-Harke ist. Da schweben die Rüschenblusen, kreiseln die Anzüge, flattern die gestärkten Hemden, und Schmidtchen Schleicher, der hinter seiner Musikmaschine auf einem Hocker festgenagelte Sangesmann, hält pro forma eine Ziehharmonika vor der Brust und annonciert stabil gelaunt den nächsten Hammerhit, „Isabella“: „Bei der nächsten Melodie geht es wieder um eine gewisse Dame. Auch hierbei wünsche ich Ihnen viel Vergnügen.“
Ein „Event“ sei das, bekundet ein Flyer. Der Betrieb läuft normal weiter, die Kassiererin wippt und summt mit, ein Paar entert schwofend den Bereich der Essensausgabe. „Später gibt’s auch Damenwahl“, sagt der rüstige Rentner, der sich zu mir an den Tisch gesellt, den letzten freien. „Ich geh’ mir mal ’nen Kaffee holen, gell?“ Links von uns verharren Weiblein und Männlein, beide wohl um die 82, in atemloser Starre. Die Sonne quetscht sich durch die Jalousien. Ein einsamer, tätowierter Trucker leert ein dunkles Hefe. Um zwanzig vor vier gibt’s am Nebentisch die ersten Viertele. Die werden sogar serviert.
„Es sind immer die gleiche Leut’. A paar vermiss’ ich heut’, die sitze immer da vorn am Tisch“, klärt mich mein frisch versorgter Kaffeetischnachbar auf. Sachte klopft seine rechte Hand, an der der halbe Daumen fehlt, den Takt mit, auch in den Musikpausen. Man muss ja vier Stunden durchhalten. Zwecks Stärkung werden Brezeln, Trockenkuchen, ein Schälchen Karottensalat, ein Joghurt und Multivitaminsaft weggeputzt.
„Wie wär’s denn mit der nächsten Melodie?“ Langsam, aber zielstrebig erhebt sich die Mehrheit und dreht zur nächsten Ringelrunde ab. Von Lebensverrostung und erloschenen Herzen keine Spur. Aus Friedberg, Vilbel, Babenhausen kämen die Leute, er komme aus Mühlheim, sagt der Mann. „Die nächste Melodie im Dreivierteltakt, ganz speziell für die anwesenden Damen. Viel Spaß dabei“, presst Schmidtchen Schleicher, der mit Abstand trägste Mensch in diesem Raum, aus seinem grauen Bart.
Seit nunmehr fünf Jahren veranstaltet Möbel Erbe Seniorentänze. „Mei Kumpel komme heut’ nemmer. Der eine is 84“, fügt mein Nachbar ein wenig enttäuscht an – und freut sich im nächsten Atemzug auf den kommenden Montag, auf den Jazzdämmerschoppen: „Am Montag trinke mer zwei Flasche Rotwein, eine erstklassige französische Merlot, zu sechst, was solle’en sein!“, schwärmt er.
Dass Schmidtchen Schleicher nicht „der Holländer do“, der Peter Koelewijn, ist, begreife ich dann auch. Schmidtchen Schleicher ist der große Günter Schmidt. Was soll’s. „Im ganze Umkreis kriegste kein Kaffee mehr für vierzig Cent“, sagt mein Kumpel, da setzt man sich schon mal in Bewegung. „Fit un Fun sin die Leut’, des is doch des neudeutsche Wort.“
Draußen handeln zwei altdeutsche Senioren die Modalitäten des Einparkens aus. Über ihren erregten Köpfen hängt ein Riesenplakat an der Möbelhauswand: „Pott Kaffee 0,40 €“. Wer redet hier noch von Krise?
JÜRGEN ROTH