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Archiv-Artikel

Anteilnahme ohne Grenzen

EMPATHIE Das Kunstprojekt „Weinen für die Polkappen“ will unser Mitgefühl mit zahlreichen Performances und Filminstallationen im Dreieck Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln auf einer „Empathiemeile“ aktivieren

„Weinen für die Polkappen“

„Weinen für die Polkappen – Szenarien globaler Empathie“ läuft noch bis zum 19. August an diversen Orten. Die Videoinstallation „Warum Weinen?“ etwa bis zum 20. August unter anderem in der Bar „Sanatorium 23“, Frankfurter Allee 23, im Café am Kamin, Falkensteinstr. 18 oder im Dilara Backshop, Reuterstr. 56. Heute ab 20 Uhr findet ein Empathiestammtisch in der Bar Las Primas, Wrangelstr. 54, zur aktiven Anteilnahme statt. Am Samstag werden auf der Empathiemesse gängige Empathiemethoden vorgestellt. Weitere Aufführungen der Performance „Wo ist nur mein Mitgefühl geblieben?“, Donnerstag bis Sonntag, jeweils um 19 Uhr in der „Schilling Bar“, Weserstr. 9, Neukölln. Reservierung unter Tel. 01 76-85 30 58 17 wird erbeten. Weitere Informationen www.laborfuerkontrafaktischesdenken.de CN

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Nur die Zarten kommen in den Empathiegarten. Sitzen zwischen Sperrholzgartenzwergen in hübschester Hollywoodschaukeligkeit und singen zur Akustikgitarre Lieder, die in ihrer aufrichtigen Zuckrigkeit an ein evangelisches Pfadfinderlager erinnern. Oder an den Neoromantiker Jochen Distelmeyer. Man trägt Dirndl und Gummistiefel. Man berührt Topfpflanzen und schaut mal, was man so fühlt. Anders gesagt: Es ist Samstagnachmittag, Frankfurter Allee und das Labor für kontrafaktisches Denken hat zwischen realsozialistischen Monumentalbauten seine kleine Empathiemeile installiert.

Und der, der da mit der Gitarre sitzt und aus den Gedankensplittern der Besucher stante pede ohrwurmige Empathiehymnen bastelt ist Max Knoth, eigentlich Filmmusiker und mit von Berufswegen damit vertraut, Gefühle zu konstruieren und zu implantieren. Eine erste listige Finte also – wie viel Manipulation steckt in unseren ganz privaten Gefühlslandschaften? Was überhaupt macht uns fühlen? Und warum können wir der Welt ihr Übel auch mal so gar nicht übel nehmen?

Moral und Selbstzweifel

Darum also geht es bei „Weinen für die Polkappen–- Szenarien globaler Empathie“: Um Empathie, um die Fähigkeit, sich in das Leben und Leiden der anderen hineinzuversetzen. Und um Moral und Selbstzweifel, zumindest zeigen das die Reaktionen des Publikums. Immer ist da dieses Gefühl, es sich mit dem wahren Leben im Falschen zu einfach gemacht zu haben. Einfach wegzuzappen, wenn die News mal wieder nur Bad News sind.

Auch das ist ja so eine ganz banale Alltagserfahrung: Eigentlich niemand entscheidet sich bewusst dagegen, Mitgefühl zu entwickeln. Wir reduzieren nur die Konfrontationen mit Kampfzonen dieser Welt, blenden aus, was nicht blendend läuft. „Wäre es denn überhaupt gut, mehr an Empathie zu haben?“, fragt deshalb auch Julia Schleipfer, eine der beiden Initiatorinnen des Projekts.

In den Videointerviews „Warum Weinen?“ – die gleich an mehreren Orten zwischen Friedrichshain und Neukölln permanent zu sehen und als Rückgrat des Projekts unbedingt zu empfehlen sind – bringt es ein neunjähriges Mädchen selbstgewiss auf den Punkt. Ihre Katze kennt sie gut, aber die toten Wale vor der japanischen Küste, die kennt sie ja nicht. Wird es am Ende also nichts mit dem kollektiven „Weinen für die Polkappen“, wie das Labor für kontrafaktisches Denken ihre „Szenarien globaler Empathie“ nennt. Deshalb auch die Gummistiefel, für die Tränen und das geschmolzene Eis.

Von der Bühne in die Stadt

Immer ist es da, das Gefühl, es sich mit dem wahren Leben im Falschen zu einfach gemacht zu haben

Das Labor für kontrafaktisches Denken, das sind Peggy Mädler und Julia Schleipfer, Kulturwissenschaftlerinnen, Theatermacherinnen. Vor zwei Jahren haben sie den hermetischen Raum der Bühne hinter sich gelassen und sind hinaus in die Stadt gezogen. Schauen, was passiert, in den kommenden zehn Tagen in der Frankfurter Allee, der Falckensteinstraße am Schlesischen Tor und im Kreuzköllner Reuterkiez.

Diskussion statt Diskurs, rausgehen, mit den Orten arbeiten und den Menschen, die sowieso dort sind. Bei Aldemir Eis in der Falckensteinstraße gibt es während der zwei Wochen dieses Projekts einen Empathie-Eisbecher. Aber auch der schmeckt sahnig-süß. Weshalb noch auf die Bühnenperformance „Wo ist nur mein Mitgefühl geblieben?“ hingewiesen werden muss, in der die Schauspieler Lisa Lucassen und Julian Mehne tatsächlich so etwas wie eine Hermeneutik der Empathie leisten, eine konstruktive wie dekonstruierende Vielheit der Erklärungsversuche zwischen Kulturphilosophie, Neurobiologie und den Tücken des Alltags. Das kleine, diskurstheoretisch beschlagene Stück gibt diesem emphatischen Empathie-Happening auch die notwendige Ernsthaftigkeit.

Unter all den popbunten, ironieästhetischen Oberflächen ist „Weinen für die Polkappen“ also doch eine ganz schön clevere Versuchsanordnung über die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Anteilnahme. Teilnehmen kann man noch bis zur finalen Empathieparty am 19. August in der Bar „Las Primas“. Das wird dann wohl ein tränenreicher Abend werden.