Ein anderes Lied

NEUE KAPITALE KRITIK (3): Den Grünen ist die enttäuschte Liebe der SPD zur Großindustrie fremd. Münteferings Kritik ist unglaubwürdig – und ihr fehlt die ökologische Dimension

Was wird aus denen, die weder Kapital-besitzer noch Inhaber eines auskömmlichen Arbeitsplatzes sind?

An der von Franz Müntefering losgetretenen Kapitalismusdebatte haben sich die Grünen bislang nicht mit viel Engagement beteiligt. Das überrascht, denn man darf annehmen, dass ihre Anhänger die Herrschaft der Ökonomie auf der ganzen Linie kritisch sehen. Die These, dass die Jagd nach schnellem Geld ohne ehrliche Arbeit das Gemeinwesen zersetzt, dürfte beim grünen Publikum auf ebenso große Zustimmung treffen wie die Feststellung, Unternehmertum ohne soziale Verantwortung sei asozial.

Auch die gängigen Rezepte gegen die Maßlosigkeit des Kapitals, etwa die Tobin-Steuer gegen globale Devisenspekulation oder der Mindestlohn gegen Dumping, stehen bei Grünwählern hoch im Kurs. Warum also stimmen viele Grüne nicht frohgemut ein, wenn Müntefering nun „das Kapital“ angreift?

Zunächst sticht ins Auge, dass mit der starken Betonung der Dichotomie von Kapital und Arbeit die dritte Dimension nachhaltiger Entwicklung, die Natur, wieder vollends aus dem Blickfeld gerät. Sie kommt nicht mehr vor in einem Diskurs, der nur noch um ökonomische Verteilungsfragen und die Aneignung des Mehrwerts kreist, um Renditen und Löhne. Von einer Reflexion über die Qualität des Sozialprodukts fehlt jede Spur. Der Kuchen soll wachsen, egal wie, gebalgt wird nur um die Stücke. Das ist nach dreißig Jahren Einsicht in ökologische Zusammenhänge und die Fragilität unseres Planeten ein bemerkenswertes Retardieren, das sich unsere Gesellschaft und erst recht eine grüne Partei nicht leisten kann. Für sie müssen sich soziale und ökonomische Entwicklung innerhalb ökologischer Leitplanken vollziehen.

Münteferings Thesen haben auch etwas von enttäuschter Liebe: Nun haben wir so viel für die große Industrie getan, scheint er sagen zu wollen, und sie liefert einfach nicht – weder Arbeitsplätze noch Steuern. Welch ein Ärgernis! In der Tat ist diese Bundesregierung, allen voran Wirtschaftsminister Clement, den Wünschen der großen Kapitalgesellschaften ja sehr weit entgegengekommen, nicht nur bei der Senkung der Körperschaftssteuer. In der Energie-, der Automobil- oder der Chemikalienpolitik macht sich der SPD-Mainstream die Anliegen der großen Konzerne (und der entsprechenden Konzernbetriebsräte) weitestgehend zu Eigen. Verbraucherinteressen oder die Interessen kleiner und mittlerer Unternehmen, in der Regel Personengesellschaften, zählen da wesentlich weniger.

Den Grünen ist dieses Vertrauen in Großunternehmen kulturell immer fremd gewesen. Im Gegenteil, in der Blütezeit des Korporatismus, als Staat, Industrie und Gewerkschaften noch gemeinsam definierten, was das Gemeinwohl ist, sind die Grünen als Protestbewegung erst entstanden: gegen Umweltzerstörung, mangelnde Bürgerbeteiligung, Zentralismus und den Primat von Konzerninteressen. Vernünftigerweise setzen sie in ihrer Wirtschaftspolitik deshalb eher auf kleine und mittlere Unternehmen, auf neue Dienstleistungen und den Non-profit-Sektor, kurz: auf dezentrale und eher selbst organisierte Strukturen. Das ist eine andere Welt als die des sozialdemokratisch geprägten Facharbeiters. Nicht besser, nicht schlechter, aber anders.

Es mag sein, dass viele Sozialdemokraten mit Wehmut auf die seligen Zeiten zurückschauen, in denen Kapital und Arbeit sich im Nationalstaat noch wohl organisiert gegenüberstanden und Verteilungsfragen unter sich ausmachten – häufig zu Lasten Dritter, nämlich derjenigen, die außerhalb dieser Strukturen agierten. Für die Grünen gibt es keinen vernünftigen Grund, sich die 70er- und 80er-Jahre zurückzuwünschen. Sie tun gut daran, sich nicht an Einzelinteressen von Großunternehmen zu orientieren, sondern einen Ordnungsrahmen zu spannen, der fairen Wettbewerb, soziale Gerechtigkeit und den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ermöglicht. Das kann nicht mehr allein auf nationalstaatlicher Ebene geschehen, sondern muss in Europa und in internationalen Verträgen angegangen werden. Die unterschwellige Rhetorik gegen polnische „Billigarbeiter“ und amerikanische „Spekulanten“ hat daher einen etwas schalen Beigeschmack.

Bleibt ein letzter Grund, warum die Grünen in Münteferings Arie nicht ohne weiteres einstimmen können. In der Debatte nämlich fehlt ein Aspekt völlig: Was wird aus denjenigen, die am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala stehen, die weder Kapitalbesitzer noch Inhaber eines auskömmlichen Arbeitsplatzes sind? Es dürfte kaum ausreichen, bloß Kapitalismuskritik zu betreiben und gleichzeitig bei Hartz IV alles beim Alten zu lassen.

Wenn die Arbeitsmarktreform auf den Prüfstand kommt, muss vor allem darüber nachgedacht werden, wie die Situation von Kindern arbeitsloser Eltern verbessert werden kann. Es ist ein Widerspruch erster Güte, sich einerseits vorzunehmen, die Bildungsreserven unserer Gesellschaft zu heben, andererseits aber zuzulassen, dass mehr und mehr Kindern aus armen Familien der Zugang zu Bildung und Ausbildung verwehrt bleibt.

Die Debatte darüber, wie denn die Ökonomie wieder in den Dienst des Gemeinwohls gestellt werden kann, ist jetzt eröffnet. Schnelle Antworten kann es wohl nicht geben, aber einige drängen sich auf.

Das ist eine andere Welt als die des Facharbeiters. Nicht besser, nicht schlechter – anders

Erstens müssen diejenigen, die den Nachtwächterstaat propagieren, in die Schranken gewiesen werden. Gerade wer eine gesunde Volkswirtschaft will, braucht einen starken Staat, der fairen Wettbewerb garantiert und Kartelle bekämpft, der sozialen Ausgleich und die Leistungsbereitschaft seiner Bürger in Einklang bringt, der seiner Verantwortung für Bildung, Forschung und nachhaltige Entwicklung gerecht wird. Wir brauchen also keine Debatte über weitere Steuersenkungen, sehr wohl aber darüber, wie öffentliche Mittel zugunsten von Zukunftsinvestitionen umgeschichtet werden können.

Zweitens muss die zunehmende Armut in unserem Land, vor allem die Kinderarmut, stärker bekämpft werden. Alles auf die Karte Vollbeschäftigung zu setzen, ist absolut illusorisch. Die wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Konzepte wie das Grundeinkommen, das Bürgergeld oder die negative Einkommensteuer, die in den Schubladen schlummern, müssen wieder auf die Tagesordnung.

Drittens ist zur Domestizierung international vagabundierenden Kapitals eine Fülle von Maßnahmen erforderlich, von der Stilllegung von Steueroasen bis zur Tobin-Tax. Das wird dauern. Eine Maßnahme kann die Bundesregierung aber sofort ergreifen. Von der Bonner „Stiftung Zukunftsfähigkeit“ liegt ein Vorschlag auf dem Tisch, der alle Pensionsfonds dazu verpflichten soll, jährlich zu berichten, ob und wie sie soziale, ethische und ökologische Kriterien in ihrer Geldanlage berücksichtigen. Bislang blockt das Finanzministerium. Würde dieser Vorschlag, den viele Abgeordnete unterstützen, in deutsches und EU-Recht umgesetzt, hätte die jetzige Debatte enorm an Glaubwürdigkeit gewonnen. REINHARD LOSKE