: Der neue Blick aufs Wasser
MAUERWANDERN (Teil 10) Einst trennte die Mauer die Nieder Neuendorfer von der Havel. Nun führt am Fluss eine Promenade entlang. Idylle pur gibt es dennoch nicht: Ein Wachturm erinnert an die Zeit der Teilung und die Mauertoten
■ Die Steinerne Brücke ist die Grenze zwischen Spandau und Brandenburg. Eine Gedenktafel erinnert an die beiden Todesfälle an dieser Stelle. Am 16. Februar 1977 wurde der 18-jährige Dietmar Schütze bei einem Fluchtversuch erschossen. Aber auch ein Grenzsoldat musste sterben. Der 24-jährige Ulrich Steinhauer erlag am 4. November 1980 einem Schuss, der aus der Waffe eines Kameraden kam, der über die Mauer nach Westberlin flüchtete.
■ Die erste Rast kann man im „Jagdhaus“ machen, kurz bevor der Mauerweg auf die Havel trifft. Dort gibt es auch eine Badestelle.
■ Eine Exklave auf DDR-Gebiet waren die Wochenendgemeinschaften Fichtewiese und Erlengrund. Um zu ihren Ferienhäusern zu kommen, mussten die Westberliner Besitzer DDR-Grenzkontrollen passieren. Nach 1961 durften die Anlagen nur zu festgelegten Zeiten betreten werden.
■ An der Kolonie Papenberge im Hennigsdorfer Ortsteil Nieder Neuendorf steht einer von vier erhaltenen Wachtürmen der ehemaligen Grenzanlagen. Er ist bis zum 3. Oktober täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr geöffnet.
VON UWE RADA (TEXT) UND KAY MICHALAK (FOTOS)
Stefan Seeger ist keiner, der um den heißen Brei herumredet. „Sie sind ein sportlicher Typ“, schmeichelt er. „Was schätzen Sie, wie viel Zeit Sie hätten?“ Mit ausgestrecktem Arm deutet er auf den schmucken Ortsplatz, der gleich hinter dem Wachturm von Nieder Neuendorf entstanden ist. „Dort war der Signalzaun“, klärt Seeger auf und zeigt dann in Richtung Havel. „Zwischen den Kirschbäumen dort verlief die Mauer. Wenn sie am Signalzaun sind, lösen Sie Alarm aus. Dann müssen Sie 30 Meter über den Todesstreifen und am Ende noch über die Mauer. Na, wie lange?“
Eine Antwort wartet Seeger, kahlgeschorener Kopf, sympathisch loses Mundwerk, gar nicht ab. „40 Sekunden? Ach was, 8 Sekunden haben Sie! Und dann sind Sie erst in der Havel, dort können Sie von den Patrouillebooten immer noch erwischt werden.“
Wer in Nieder Neuendorf, dem schmucken Ortsteil der Industriestadt Hennigsdorf, am Havelufer entlangschlendert, hat mit einer Zeitreise in die Vergangenheit seine Mühe. Auf den Uferwiesen knutschen sie oder spielen Volleyball, auf der Havel machen sich Ausflugsboote, Freizeitkapitäne und Binnenschiffe den Platz streitig. Wäre nicht der ehemalige Wachturm der DDR-Grenztruppen, niemand würde auf die Idee kommen, dass hier die Grenze zwischen Hennigsdorf und dem Spandauer Ortsteil Heiligensee verlief. An der Stelle, an der der Turm steht, war der Westen sogar nur ein paar Steinwürfe entfernt. Knappe hundert Meter breit ist die Havel hier.
Dass der Turm heute noch steht, haben Berliner und Brandenburger Christoph Schneider zu verdanken. Als Archivar der Stadt Hennigsdorf hat er sich gegen den Abriss starkgemacht und die Stadt davon überzeugt, sich ein kleines Grenzmuseum zu leisten. Seit 1998 ist der Turm von April bis Oktober geöffnet, zum 20. Jahrestag des Falls der Mauer wurde die Ausstellung überarbeitet. „Die Personalkosten werden über das Arbeitsamt finanziert. Es gibt aber auch viele Spenden“, freut sich Schneider. Der Grenzturm in Nieder Neuendorf ist nicht nur einer der vier letzten, die es entlang der einstigen Grenze gibt, er ist auch der einzige, der einem breiten Publikum zugänglich ist. Seit zehn Jahren steht er unter Denkmalschutz.
Aus dem Erste-Hilfe-Kasten zaubert Stefan Seeger eine Postkarte: eine historische Aufnahme aus der Zeit der deutsch-deutschen Teilung, als in Nieder Neuendorf noch das Grenzregiment 38, Clara Zetkin, Dienst schob. Zu sehen sind der Turm und eine Villa. „In der Villa wohnte ein Major der Grenztruppen“, klärt Seeger auf. Wo heute die Uferpromenade verläuft, war der Todesstreifen. „Nieder Neuendorf“, sagt Stefan Seeger, „war ein Wasserwohnort ohne Wasser.“
Heute ist Nieder Neuendorf ohne die Havel nicht mehr denkbar. Allein der Mauerradweg, der hier kilometerweit am Fluss entlangführt, bringt jährlich 8.000 bis 10.000 Besucher in den Ort. Hinter der Uferpromenade ist Nieder Neuendorf mit der Kolonie Papenberge und dem Wohngebiet Havelpromenade an den Fluss gerückt. Zwischen Havel und Havelkanal hat es sich sogar eine Marina samt angeschlossenem Wohnpark geleistet – alles von der Stange, aber immerhin. Und an der Naturbadestelle Nieder Neuendorfer See, eine Ausbuchtung der Havel, toben die Kleinen.
■ 160 Kilometer lang war die Mauer, die Westberlin vom Osten trennte. Von kleinen Umwegen abgesehen, kann man noch immer den Grenzverlauf abradeln oder -laufen, wie die taz in ihrer Sommerserie zeigt. In 15 Folgen à rund 10 Kilometer schildern taz-Redakteure, was man entlang dem offiziellen „Berliner Mauer-Radweg“ erleben kann – zu Fuß!
■ Die jüngste Etappe (erschienen am 7. August) spielte in der Westberliner Exklave Eiskeller in Spandau, die zur DDR-Zeiten das bestbewachte Gebiet Deutschlands war.
■ Die nächste Folge dieser taz-Serie wird am kommenden Freitag erscheinen.
■ Alle bisherigen Etappen sind im Internet zu finden unter taz.de/mauer
Dass Nieder Neuendorf das Thema Wasser als Chance erkannt hat, liegt auch an Hennigsdorfs Oberbürgermeister Andreas Schulz. Der Ortsteil, sagt er, „lag lange Zeit im Schatten des Grenzgebiets, hat sich mit einer reizvollen Lage zwischen Wasser und Wald aber gut entwickelt“. Das ist mehr als untertrieben: Lebten zu Mauerzeiten 300 Menschen im Örtchen an der Havel, sind es heute 4.000.
Dank des Grenzturms müssen auch sie sich mit den Zeiten vor der Idylle auseinandersetzen. „Manchmal kommen 20 Besuscher am Tag, manchmal sind es 160“, berichtet Stefan Seeger. Noch immer hält er das Foto mit dem Todesstreifen in der Hand, dann fordert er auf, den Turm zu besteigen. Im zweiten Stockwerk versorgt einen ein Lautsprecher mit dem nötigen Wissen. Zu dem gehören auch die beiden Todesfälle in Nieder Neuendorf. Peter Kreitlow, damals 20 Jahre alt, wurde am 24. Januar 1963 von Sowjettruppen erschossen. Das zweite Opfer war Franciszek Piesik, ein 25-jähriger Pole, dem es am 15. Oktober 1967 gelang, in die Havel zu springen. Dort verließen ihn offenbar die Kräfte, er ertrank. Seine Leiche wurde knapp zwei Wochen später von Westberliner Seite aus geborgen.
„Wir dürfen nie vergessen, dass das hier eine Diktatur war.“ Stefan Seeger hält einen Moment inne, dann ist die Gedenksekunde vorbei. „Immerhin“, gibt er zu bedenken, „gab es in den Staaten des Warschauer Pakts die Vorschrift, dass Grenztruppen nicht aus Gebäuden herausschießen dürften.“
Kurz geht Seegers Blick zur Uhr, dann grinst er. „Ein paar Sekunden mehr hätten Sie also gehabt. Schließlich hätten die Grenzer aus dem Turm herausspringen müssen, um auf Sie zu schießen.“