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Archiv-Artikel

Mühsame Eroberung der nächsten Sprosse

Seit fünf Jahren hilft das „Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung“ in Kalk Kleinkindern, deren Entwicklung verzögert ist oder die verhaltensauffällig werden. Aber auch für die schwierige Situation der Eltern haben die Mitarbeiter ein offenes Ohr

VON CLAUDIA LEHNEN

Yusuf ist nicht da. Auch Ben und die anderen Kletterer sind an diesem Tag nicht gekommen. Die Berge aus Weichbodenmatten werden heute nicht bezwungen. Da ist nicht einmal ein Ängstlicher, der sich unter ihnen hindurch zwängt, um so seine Angst zu überwinden. Anders als an anderen Tagen stehen heute nur Erwachsene um die Kletterwand. In die Hängematte, in die Puppenecke unter den roten Baldachin hat sich auch noch niemand gewagt. Rund 150 Erzieherinnen und Sozialpädagoginnen sind heute in das „Zentrum für Frühbehandlung und Frühförderung“ nach Kalk gekommen, um sich über die Arbeit im Zentrum zu informieren.

„Die Kinder, die zu uns kommen, haben wenig Platz, kein Kinderzimmer, keinen Auslauf. Sie sollen hier erfahren, dass das Beste gerade gut genug für sie ist“, sagt Tordis Horstmann, Leiterin aller acht Förderzentren in Köln. Seit fünf Jahren sitzt das Zentrum in Köln-Kalk. Hier helfen Horstmann und seine Kollegen Kindern, die behindert sind, deren Entwicklung verzögert ist, oder die verhaltensauffällig werden. Den Stadtteil wählten sie bewusst. Schließlich wollen sie vor allem denjenigen Kindern zur Seite stehen, die auch sozial benachteiligt sind.

Ingo Baatz steht neben der Leiter, für deren Eroberung so mancher Vierjährige einige Tage benötigt. Schließlich sitzt da oft die Angst auf dem Rücken und in den ersten Stunden bei der Motopädin macht so mancher nach ein zwei Schritten wieder kehrt. „Die Kinder sollen hier erfahren, wie es ist, hoch zu klettern. Wie es sich anfühlt, auf wackligem Grund zu gehen.“ Baatz, Leiter des Kalker Zentrums, das heute gewissermaßen das Geburtstagskind ist, greift zur obersten Sprosse. Beim Versuch sich anzulehnen, gerät die Leiter ins Wanken, Baatz schwankt auch und stellt sich dann lieber kerzengerade hin. Die oberste Sprosse hat er wieder los gelassen.

Für die Zukunft seiner Arbeitsstätte möchte Baatz nicht zu optimistisch sein. Bei der derzeit „angespannten finanziellen Lage“ gibt er als einziges Ziel der jüngsten Frühfördereinrichtung deren Erhalt vor. Dazu hofft der Diplompsychologe, dass endlich die Vorgaben umgesetzt werden, die der Gesetzgeber schon vor vier Jahren im Sozialgesetzbuch IX gemacht hat. „Wir dürften dann nicht nur einzelne, vom Kinderarzt verordnete Leistungen übernehmen, sondern für jedes Kind selbst einen kompletten Behandlungsplan erstellen“, sagt er. Bislang sei die Finanzierung des Modells aber noch nicht geklärt. Baatz weiß: „Die Stadt als Sozialhilfeträger und die Krankenkassen streiten sich noch.“

In der Kalker Einrichtung, die viel Platz in einem Haus der Gold-Kraemer-Stiftung erhalten hat, gibt es nicht nur Motopäden, Heilpädagogen, Psychologen, Physiotherapeuten, Logopäden und Ergotherapeuten, die Kinder bis sieben Jahre unterstützen. Auch für die Eltern, die oftmals in schwierigen Situationen stecken, hat man ein offenes Ohr. „Wir vermitteln die Leute auch weiter, wenn es in der Familie finanziell schwierig ist“, sagt Baatz. Schließlich habe er auch nette Kollegen bei pro familia, dem Jugendamt, bei Erziehungsberatungsstellen, beim Sozialamt.

Eine Gruppe von Erzieherinnen steht um einen Tisch mit Memorykarten und staunt darüber, was dieses Spiel bei kleinen Entdeckern alles fördern kann. Das Erinnerungsvermögen, aber auch Sprachentwicklung, die Orientierung im Raum und vieles mehr. „Wir waren selbst verblüfft, wie lang die Liste geworden ist“, sagt Ingo Baatz.

Sabine Huber steht wie ein zu großes Kind vor dem kleinen Tisch mit der Schnecke aus Sand, mit der Kinder ihre Konzentrationsfähigkeit trainieren. Am liebsten arbeite sie mit „ängstlichen Kindern, die sich selbst nichts zutrauen“, sagt die Heilpädagogin. Oft sei für diese Jungen und Mädchen nicht nur entscheidend, welche Therapie sie anfangen würden. „Vielen tut es einfach gut, dass sich jemand eine Stunde ganz allein mit ihnen beschäftigt.“

Yusuf ist heute nicht da. Aber er hat ein Bild dagelassen. Er hat es selbst gemalt und es zeigt ein rennendes Kind. Vielleicht fliegt es auch. So genau ist das nicht zu erkennen.