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Archiv-Artikel

Europa, mon amour

Nun währt unsere leidenschaftliche Liebe schon unzählige Jahre, genauso unzählig waren Deine Höhen und Tiefen. Du hast uns gefoltert, unterdrückt und unmündig gemacht, doch Du hast uns wieder befreit und zur Tugend und Vernunft erzogen. Welch Überraschungen stellst Du noch für uns bereit?

Ob holder Ritter, einfühlsamer Romantiker, verständnisvoller Aufklärer, kritischer Vordenker oder großzügiger Helfer der Bankrotten, trotz häufiger Zweifel wichen wir nie von Deiner Seite.

Selbst nach unserer 30-jährigen Krise, geprägt durch Spannungen, Aufstände und Gefechte, sagten wir letztendlich: Peace man! Beim nächsten Mal wird’s besser. Und es wurde alles besser.

Solidarisch gingen wir zur Therapie: Wir haben Bildungsreformen erarbeitet, uns auf den Europarat geeinigt, Finanzpakete verabschiedet und gemeinsam den Lissabon-Vertrag debattiert.

Und ein Hoch auf Deine Vorschriften – nie wieder müssen wir zu krumme Gurken verspeisen oder zu kurze Bananen vertilgen (das macht unseren Alltag um einiges entspannter).

Doch vor allem versicherst Du uns die freie, öffentliche und kritische Meinungsäußerung. Europa, Du hast uns Tore in eine wunderbar neue Welt eröffnet. Du schaust über Deinen Tellerrand hinaus und stehst Deinen Nachbarn eisern bei. Flüchtlinge aus Krisengebieten der ganzen Welt kommen zu Dir und Du bietest Asyl. Mit vereinten Kräften haben wir denen da draußen gezeigt: Schaut her, so muss das laufen! Du engst uns nicht mehr ein, hast Deine Grenzen überwunden, Sprachen und Kulturen vereint und ungeahnte Fantasien und Visionen verwirklicht.

Liebes Europa, welch atemberaubende Vielfalt! Nun tanzen wir mit Leichtigkeit auf den Wellen der Côte d’Azur, wandern durch die Tiroler Täler, erklimmen den Kaukasus, erforschen den Böhmerwald, stellen die Städte in durchzechten Nächten auf den Kopf oder lassen die nordischen Gletscher schmelzen.

Ach Europa, es ist nicht leicht. Du reizt mit Deiner Schönheit, doch manchmal kommen uns die Zweifel. Als Bürokratin raubst Du uns den letzten Nerv und als Demokrat bist Du nicht immer glaubwürdig. Das Leben ist halt kein Zuckerschlecken – und wenn, dann doch noch am ehesten mit Dir.

Viele Hürden wurden überwunden und das gibt uns Zuversicht. Wir glauben an uns, Europa.

In Liebe

CLAIRE FASTNER, LISA EHRLICH