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Archiv-Artikel

„Wenn Kriminelle beunruhigt sind, habe ich nichts dagegen“

Hinhören, weghören – einschalten, abschalten: Beim großen Lauschangriff steht für Brigitte Zypries der Schutz des „Kernbereichs privater Lebensgestaltung“ im Vordergrund

taz: Frau Zypries, heute wird der Bundestag den großen Lauschangriff entschärfen. Was ist konkret geplant?

Brigitte Zypries: Das Bundesverfassungsgericht hat den Gesetzgeber aufgefordert, dafür zu sorgen, dass vertrauliche Gespräche, die keinen Bezug zu Straftaten aufweisen, in den eigenen vier Wänden nicht abgehört werden. Der „Kernbereich privater Lebensgestaltung“ solle geschützt bleiben.

Was heißt das? Darf es im Schlafzimmer von Verdächtigen künftig keine Mikrofone mehr geben?

Es geht nicht um bestimmte Räume, sondern um private Handlungen und Gespräche. Es ist doch nicht schutzwürdig, wenn sich eine Runde Drogendealer ins Schlafzimmer einer Wohnung zurückzieht. Andererseits kann man auch am Küchentisch sehr private Gespräche führen.

Also zum Beispiel Gespräche über Sex und Beziehungen …

… oder Krankheiten oder ganz persönliche Erlebnisse oder Gefühle. Eben all das, was man mit vertrauten Personen so beredet.

Ist damit auch das normale Leben zum Beispiel einer Wohngemeinschaft geschützt?

Ja. Es geht nicht nur um den Schutz von Ehe und Familie.

Darf die Privatwohnung also nie abgehört werden?

Wenn es Indizien dafür gibt, dass dort über Straftaten gesprochen wird, dann kann auch gelauscht werden, zum Beispiel wenn andere Verdächtige zu Besuch kommen.

Was gilt, wenn die Polizei überhaupt nicht weiß, was in einer Privatwohnung passiert?

Dann darf nicht abgehört werden.

Es gilt insoweit also das Motto „Im Zweifel für die Privatsphäre“?

Ja.

Nehmen wir an, die Polizei hat Hinweise bekommen, dass ein vermeintlicher Drogenhändler abends mit seiner Freundin über kriminelle Machenschaften sprechen will. Die Wohnung wird also abgehört. Doch dann beginnen die beiden zu turteln …

Dann muss das Tonband abgeschaltet werden, weil jetzt der Kernbereich privater Lebensgestaltung betroffen ist.

Kriminelle könnten das doch ausnutzen: Erst wird über Orgasmusprobleme gesprochen und dann, wenn die Wanze abgeschaltet ist, über Geldwäsche.

Gewiefte Ermittler merken, wenn Privatgespräche nur vorgetäuscht sind.

Falls das Aufnahmegerät abgeschaltet wurde, stellt sich die Frage: Wann darf es dann wieder eingeschaltet werden?

Sobald es konkrete Anhaltspunkte gibt, dass es in der überwachten Wohnung nicht mehr um Privates geht. Zum Beispiel, wenn die Freundin des Verdächtigen geht und ein Dritter die Wohnung betritt.

Der große Lauschangriff wurde 1998 eingeführt. War das aus heutiger Sicht ein Fehler?

Nein. Das war eine notwendige Maßnahme. Es darf keine Freiräume für Verbrecher geben, in denen sie nach Belieben Straftaten planen können.

Nach einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts (MPI) für Strafrecht ergaben nur sieben Prozent der Lauschangriffe direkte Tatbeweise. Ist das nicht dürftig?

Das ist ja nicht alles. Hinzu kommt, dass die Ermittler in rund jedem dritten Fall neue Ermittlungsansätze gewinnen konnten.

Dennoch: Bei der Einführung des Lauschangriffs schürten die Innenminister von Bund und Ländern große Hoffnungen. Heute wird die Wanze im Schnitt gerade dreißigmal im Jahr angewandt. Eine Wunderwaffe sieht doch anders aus …

Das zeigt doch aber auch, dass die Polizei verantwortungsbewusst mit dem Instrument umgeht und es nur als letztes Mittel einsetzt. Außerdem sind Lauschangriffe aufwändig, von der Installation der Abhörtechnik bis zur Auswertung der Bänder.

Mit den neuen Anforderungen des Verfassungsgerichts werden Lauschangriffe noch aufwändiger, noch teurer …

Das stimmt. Der Personalaufwand steigt, weil beim Abhören von Privaträumen – anders als etwa in Geschäftsräumen – in der Regel ein Polizist neben dem Bandgerät sitzen muss, um bei Bedarf sofort abzuschalten. Außerdem kann zusätzlich ein Dolmetscher notwendig sein, wenn die Verdächtigen nicht Deutsch miteinander sprechen.

Warum haben Sie den großen Lauschangriff nicht einfach wieder abgeschafft? Die paar wenigen Erfolge sind es doch nicht wert, dass sich die halbe Bevölkerung verunsichert fragt, ob nun Mikros unter dem Bett sind oder nicht.

Na, den Eindruck teile ich nicht. Ich fühle mich nicht verunsichert. Der Normalbürger hat doch nichts zu befürchten. Schließlich ist die akustische Wohnraumüberwachung nur unter ganz engen Voraussetzungen möglich. Und wenn Kriminelle beunruhigt sind, dann habe ich nichts dagegen. Im Übrigen sollten Sie die Erfolge auch nicht kleinreden.

Die Telefonüberwachung spielt in der Polizeipraxis bislang eine viel größere Rolle als die Überwachung von Wohnungen. Läge da nicht die Überlegung nahe, den Kernbereich privater Lebensgestaltung in beiden Bereichen gleich zu schützen?

Nein. Nur die eigene Wohnung ist ein Rückzugsraum, nicht aber das Telefon.

INTERVIEW: CHRISTIAN RATH