Die Macht der Fantasie: „In Gedanken verwandeln wir Flüsse in Honig“
Fantasie hilft uns, soziale Rollen zu erproben, Probleme zu lösen und Zukunftspläne zu schmieden. Sie ist keine Zeitverschwendung.
taz: Was ist eigentlich Fantasie?
Hannes Rakoczy: Fantasie ist die Fähigkeit, sich vorzustellen, wie die Welt anders sein könnte – oder hätte sein können. In Gedanken verwandeln wir Flüsse in Honig, lassen Schweine fliegen oder machen uns selbst zur Königin von Deutschland. Fantasie eröffnet uns fremde Welten und neue Perspektiven. Sie ist eine Quelle großer Freude: Ob beim Lesen, Fernsehen oder Gaming. Wir verbringen viel Zeit damit, in erfundene Geschichten einzutauchen. Doch Fantasie ist weit mehr als Unterhaltung.
taz: Wofür ist Fantasie denn nützlich?
Rakoczy: Auf den ersten Blick scheint Fantasie keinen unmittelbaren Nutzen zu haben. Aus biologischer Sicht ist das überraschend, denn auch spielerisches Denken kostet unseren Körper Energie und Zeit. Warum also existiert Fantasie überhaupt? Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass Fantasie eine indirekte Funktion erfüllt und eine Art Nebenprodukt ist. Sie basiert auf einer sehr allgemeinen kognitiven Fähigkeit, Dinge im Kopf durchzuspielen und Lösungen zu entwickeln, noch bevor wir handeln. Außerdem können wir in Fantasiewelten soziale Rollen einüben und mit Erwartungen experimentieren.
Hannes Rakoczy ist kognitiver Entwicklungspsychologie an der Universität Göttingen. Er erforscht, wie sich Denken, Fantasie und andere kognitive Fähigkeiten in der frühen Kindheit entwickeln.
taz: Ist Fantasieren stets eine bewusste Entscheidung?
Rakoczy: Oft ist sie das, wenn wir uns willentlich in Fantasiewelten oder auf Bühnen begeben. Aber oft passiert sie uns auch mehr oder weniger. Unser Gehirn kann tatsächlich ohne großes Zutun von uns in eine Art Fantasiemodus schalten, am eindeutigsten im REM-Schlaf, wenn wir träumen. Träume gelten als klarer Ausdruck ungebundener Vorstellungskraft. Aber auch im Wachzustand gibt es Phasen, in denen das Gehirn in einen fantasieähnlichen Zustand wechselt. Die Neurowissenschaft spricht hier vom Default Mode Network. Das wird aktiv, wenn wir keine konkrete Aufgabe haben, zum Beispiel beim Tagträumen. Es ist kein exklusiver Fantasiezustand, aber oft ein Ausgangspunkt für kreatives Denken. Und auch sie haben einen indirekten Nutzen: Die Tagträume oder das Durchgehen von erlebten Situationen können uns helfen, aus der Vergangenheit zu lernen, um in Zukunft bessere Entscheidungen zu treffen. Das nennt man kontrafaktisches Denken.
taz: Das Einüben von sozialen Rollen und das Ausprobieren von Dingen ist auch ein wichtiger Teil des kindlichen Fantasiespiels. Ab wann beginnt sich unsere Fantasie zu entwickeln?
Rakoczy: Erste Formen von Als-ob-Spielen lassen sich schon ab dem zweiten Lebensjahr beobachten. Anfangs ist das noch ganz einfach: Ein Kind tut zum Beispiel so, als wäre eine leere Tasse voll, und „trinkt“ daraus. Mit der Zeit werden Fantasiespiele komplexer: Erst spielen Kinder nur für sich selbst, dann beziehen sie Puppen oder Tiere als passive Figuren ein. Später bekommen diese Figuren eigene Gedanken und sprechen selbst. Die Fantasie wird allmählich systematischer, reicher und flexibler.
taz: Warum orientieren sich kindliche Fantasiespiele oft so stark an der Alltagswelt?
Rakoczy: Wenn Kinder mit Teddybären Kita spielen, wirkt das vielleicht noch nah an der Alltagswelt. Aber auch das ist bereits eine Fantasiewelt. Am Anfang verändern Kinder in ihren Spielen nur Kleinigkeiten der Realität. Doch mit der Zeit lernen sie, sich weiter von der echten Welt zu entfernen und immer freier zu imaginieren. Sie heben dann gezielt einzelne Regeln der Wirklichkeit auf, zum Beispiel, dass es Schwerkraft gibt oder die Sonne untergeht. Der Unterschied zur Fantasie von Erwachsenen ist dabei gar nicht so groß. Auch wir Erwachsenen bauen unsere Ideen meist auf Erfahrungen auf und entfernen uns dann nach Belieben von der Wirklichkeit.
taz: Wie unterscheidet sich die Fantasie von Kindern und Erwachsenen?
Rakoczy: Es gibt keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Fantasie von Kindern und Erwachsenen. Was sich ändert, sind Komplexität, Form und gesellschaftliche Bewertung. Bei Kindern wird zielloses Fantasiespiel gefördert und geschätzt, bei Erwachsenen dagegen oft als Zeitverschwendung abgetan. Dabei verbringen viele Erwachsene täglich Stunden mit Büchern, Serien oder Filmen. Das ist ebenfalls Fantasietätigkeit, nur passiver. Wir tauchen in fiktive Welten ein, auch wenn wir sie nicht selbst erschaffen. Darüber hinaus pflegen viele Erwachsene Fantasie aktiv, etwa im Theater, beim Rollenspiel oder in kreativen Hobbys. Die Fantasie bleibt, entwickelt sich aber weiter.
taz: Wie gut klappt gemeinsames Fantasiespiel zwischen Kindern und Erwachsenen?
Rakoczy: Fantasie ist von Anfang an eine soziale Fähigkeit. Anfangs sind es Erwachsene, die die Spielwelt mitgestalten. Später entstehen immer häufiger Fantasiespiele unter Gleichaltrigen. Deshalb kann es wunderbar funktionieren, wenn Kinder und Erwachsene gemeinsam in Fantasiewelten eintauchen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Erwachsenen flexibel und aufmerksam sind. Bei jüngeren Kindern übernehmen Erwachsene oft die Rolle der Koordinatoren: Sie strukturieren das Spiel, behalten den Überblick über Figuren und Szenen und geben der Fantasie einen Rahmen. Gleichzeitig profitieren sie selbst von der Offenheit und Unbefangenheit der kindlichen Vorstellungskraft. Je älter die Kinder werden, desto gleichberechtigter wird dieses Zusammenspiel. Mit etwas Einfühlungsvermögen ist das gemeinsame Fantasieren also eine bereichernde Erfahrung für alle Beteiligten.
taz: Ist die Fantasie von Erwachsenen strukturierter und weniger detailverliebt?
Rakoczy: Man kann schwer pauschal sagen, wie Erwachsene Fantasiewelten gestalten. Das ist sehr kontextabhängig. Mal erdenken wir uns große, komplexe Welten mit politischen Systemen, mal haben wir ganz kleine Tagträume, wie einen Saft mit Eiswürfeln und Buttermilch zu verfeinern und ihn an einem heißen Tag zu genießen. Es gibt also keine feste Regel, dass Erwachsene grundsätzlich rationaler oder weniger detailverliebt fantasieren. Interessant ist aber: Neuere Forschung zeigt große individuelle Unterschiede, etwa bei der bildlichen Vorstellungskraft. Einige Menschen haben Aphantasie, also kein inneres Bild vor Augen. Andere erleben hyperlebendige, farbige Fantasien. Das nennt man Hyperphantasie. Die allermeisten Menschen liegen irgendwo dazwischen. Einen gewissen Hang zur Fantasie sieht man auch in der Kindheit. Etwa 30 bis 50 Prozent aller Kinder zum Beispiel haben imaginäre Freunde. Das war früher Anlass zur Sorge, gilt heute aber als Zeichen besonderer Kreativität. Studien zeigen, dass solche Kinder oft auch später flexibler und fantasievoller denken.
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