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Archiv-Artikel

„Judith, Simon, wo seid ihr?“

Am ersten wirklich öffentlichen Tag zieht es tausende zum Holocaust-Mahnmal. Erwachsenen macht die Leere zwischen den Stelen zu schaffen. Kinder machen sie unbekümmert zu ihrem Spielplatz. Die Grenzen, die der Ort setzt, werden getestet

von WALTRAUD SCHWAB

Nicht um Eindrücke, um Gefühle geht es am ersten Tag, an dem das Holocaust-Mahnmal für alle offen steht. „Entschuldigung, was fühlen Sie?“, werden Besucher gefragt. „Betroffenheit.“ Und Sie? „Beklemmung.“ Und Sie? „Nichts.“ Die Antwort wirft jeden auf sich selbst zurück, wäre nicht der Vierte, der das Schweigen, das auf das Nichts folgt, mit Mascha Kalekos Worten lebendig macht: „In einer Barke von Nacht / Trieb ich / Und trieb an ein Ufer / An Wolken lehnte ich gegen den Regen / An Sandhügeln gegen den wütenden Wind / Auf nichts war Verlass. / Nur auf Wunder.“ Wie er gerade auf dieses Gedicht komme? Er wisse es nicht. Wahrscheinlich, sagt seine Frau lachend, hätte es mit dem Wetter zu tun. „Mein Mann ist ein Träumer.“

Ganz anders die Kinder. Sie machen die Leere zwischen den Stelen aus Beton, die den Erwachsenen zu schaffen machen, zu ihrem Spielplatz. „Haben Sie Judith gesehen? Sie hat einen gelben Anorak an und einen blauen Rucksack“, fragen zwei blonde Mädchen, die durch die Reihen zwischen den Stelen toben. Sie fragen jeden, der ihnen entgegenkommt. Es gehört zu ihrem Spiel.

Während sich der Lärm der Straße in den tiefer gelegenen Teilen des Mahnmals zu einem dumpfen Brummen verdichtet, das mächtig gegen die Schläfen pocht, macht das Geschrei der Kinder ihn auf symbolische Weise lebendig. „Simon, wo bist du?“, brüllt der Dickste aus einer der vielen Schulklassen, die schon am frühen Morgen das Mahnmal besuchen. Auch andere Namen hallen über das Gelände: Joschi, David, Sarah. Ausgerechnet die. Sie lassen Bilder im Kopf entstehen. Auch dann, wenn das Geschrei keine Konturen hat, wenn das Mädchengekreische hysterisch wirkt, wenn sich das Brüllen überlagert, als wäre es Panik.

Es wirkt, als wären die Kinder Teil einer Inszenierung. Dabei sind sie nur unbekümmert. Sie eignen sich an, was noch nicht angeeignet, noch nicht eingeordnet ist und eigentlich auch noch keinen Namen hat. Symbolische Ikonen der Architektur heißen in Berlin nicht Siegessäule, sondern Goldelse, nicht Quadriga sondern Retourkutsche, nicht Bundeskanzleramt sondern Waschmaschine. Sie werden in den Alltag geholt. Ob die Leute im „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ indes bald „das aschene Haar Sulamiths“ sehen – so dunkel, so anthrazit, so schattenhaft wie der verwendete Beton wirkt – steht noch dahin.

Weil das Mahnmal gleichzeitig ein Raum für Projektionen und eine Kulisse ist, wirkt außer dem Kindergeschrei alles verhalten und angestrengt. Die Grenzen, die der Ort setzt, werden getestet. Natürlich in der Absicht, sie zu übertreten. Eine Frau stellt ihre Tasche auf einer niederen Stele ab, die wie ein steinerner Sarg wirkt, und sucht darin nach dem klingelnden Handy. Ein Fotograf postiert vier Jugendliche hinter eine Stele, die sie um Kopflänge überragen und lässt sie mit aufgeblasenen Backen das Regenwasser, das sich darauf sammelt, wegpusten. Warum er das tue? „Die Tropfen geben dem Bild einen so schönen Effekt.“ Vermutlich werden vor dem Mahnmal bald Modenschauen präsentiert und Filmstunts gedreht, damit die Diskussion über das Gedenken weitergeht.

Noch lassen die Leute das Mahnmal auf sich wirken. Sie urteilen nicht. Nur eine Frau sagt: „Das Mahnmal stellt die Opfer in den Vordergrund.“ Die Gefahr sei groß, dass das Nachdenken über die Tätergeschichte in den Hintergrund gedrängt werde. „Hier ist das Herz des Erinnerns. Was aber ist mit dem Kopf?“