: Die Durchhalte-Genossen
Abends um zehn ziehen sie durch die Fußgängerzone. In den Kneipen und Bistros verteilen sie Geschenke. Die Glückskekse, in denen Politsprüche eingebacken sind. Und die Gummipeerchen. „Nicht Gummibärchen, nicht Gummipäärchen, sondern Gummipeerchen! Wie Peer Steinbrück. Das ist der Witz“, sagt Asja-Berenike Schüller mit leicht erhobenem Zeigefinger. Apropos Gummi, Original-Juso-Kondome hat sie auch im Angebot.
Asja-Berenike Schüller ist groß dabei im Landtagswahlkampf von Nordrhein-Westfalen. Sie kämpft für die SPD, im Herbst ist sie in die Partei eingetreten. Sie ist jetzt 18. Als sie geboren wurde, war die SPD schon 21 Jahre an der Regierung. Und ausgerechnet jetzt, da sie als Genossin den ersten Wahlkampf mitmacht, droht der SPD der Machtverlust. Nach 39 Jahren.
Die Gymnasiastin sitzt im katholischen Jugendcafé in Dormagen vor ihrer Cola. Die Kleinstadt ist eingeklemmt zwischen Köln und Düsseldorf. Die Leute hier nennen ihre verschlafene Fußgängerzone etwas größenwahnsinnig „Kö“. Kö, das ist eigentlich die prächtige Königsallee von Düsseldorf. Viele Jugendliche zieht es in die großen Nachbarstädte. Trotzig bleibt Asja-Berenike Schüller ihrem Dormagen treu. Wahrscheinlich ist sie auch etwas trotzig in die SPD eingetreten. In ihrer Familie wählen alle die CDU.
Ein Freund hat sie mal mit auf eine Sitzung des Ortsverbandes genommen. Da saßen nur ältere Leute in kleinen Gruppen im Versammlungssaal. Alle redeten ziemlich lange über Themen, von denen die junge Frau keine Ahnung hatte. Gewerbeansiedlungen und Haushaltssicherungsgesetze. Da habe sie sich schon etwas verloren gefühlt, sagt sie. Aber beim Juso-Stammtisch sei immer etwas los.
Dort denken sie sich ihre Wahlkampf-Aktionen aus. Sie haben sogar einen 72-Stunden-Stand organisiert. Asja-Berenike Schüller war bis auf fünf Stunden Schlafunterbrechung immer dabei. Ein Trunkenbold hat nachts Morddrohungen ausgesprochen und den Infotisch umwerfen wollen. Aber es gab auch lange Diskussionen mit Nachtschwärmern – zwischen drei und fünf Uhr in der Frühe.
Politik also als Spaß und Action? Events vor einem knallroten Spielmobil? Westerwellige Kurzweil auf links gestrickt? „Nein, Inhalte sind mir auch wichtig. Besonders der soziale Aspekt kommt bei anderen Parteien zu kurz.“ Alg II? Senkung des Spitzensteuersatzes? „Ich versuche, die gute Politik vor Ort von dem, was in Berlin gemacht wird, zu trennen. Schröder macht leider einige Sachen im Alleingang.“ Ihr helfe die Devise: „Besser SPD als gar nichts machen.“
An einen Wahlsieg der CDU glaubt Asja-Berenike Schüller nicht. „Die Leute wollen zwar nicht die SPD, aber erst recht nicht den Rüttgers.“ Wenn der überhaupt einmal den Mund öffne, dann rede er von der Überlegenheit des katholischen Glaubens. Sorgen machen ihr die drohenden Studiengebühren. Vielleicht könne sie sich dann kein Studium leisten. Aber von einem möglichen Ministerpräsidenten Rüttgers ließe sie sich nicht entmutigen: „Von mir kriegt der noch was zu hören!“
Sonnenuntergang an der Steilküste. Im Vordergrund schwebt eine Seifenblase. Dieses gerahmte Bild hängt über dem schwarzen Ledersofa. Auf dem Sofa sitzt Frank Köster, Sozialdemokrat. 1994 ist er eingetreten, mitten in der Ära Kohl. „Ich wollte nicht zum Heer der Lemminge gehören.“ Gewerkschaftler war er damals schon ewig.
Köster nennt sich einen waschechten Düsseldorfer. Seit 15 Jahren arbeitet er bei den Stadtwerken. Er kümmert sich darum, dass die Computer laufen, die Büros richtig ausgestattet sind, solche Dinge. „Facility Management“, sagt er. Die Stadtwerke sind eine Aktiengesellschaft, mehrheitlich in öffentlichem Besitz. Früher hätte man auch sagen können: in sozialdemokratischem Besitz. Aber in Düsseldorf stellt inzwischen die CDU den Oberbürgermeister und hat auch die stärkste Stadtratsfraktion. Seitdem sind die Machtverhältnisse etwas aufgewirbelt worden.
Das könnte jetzt auch auf Landesebene passieren. In den Umfragen liegen CDU und FDP rund zehn Prozent vor Rot-Grün. Aber Köster glaubt trotzdem an einen Wahlsieg der SPD. Morgens um sechs steht er schon mal mit Flugblättern vor dem Werkstor, fragt die zur Arbeit eilenden Müllwerker, ob sie ihre Kinder trotz Gebühren zur Uni schicken könnten. Erreicht er damit die Menschen in seiner Stadt? Oder fühle er sich nicht doch ein wenig wie auf der „Titanic“? „Es wird kein komfortables Wahlergebnis geben. Aber wir werden den Eisberg umschiffen.“
Das wichtigste politische Thema für den 44-jährigen Familienvater ist die Daseinsversorgung. Damit meint er die Belieferung seiner Stadt mit Strom, Wasser und Gas. „Vor zwei Jahren haben wir das Bürgerbegehren gegen die Privatisierung der Stadtwerke erfolgreich durchgeführt.“ Zunächst waren es nur wenige, die dagegen waren. Köster und einige Genossen suchten Bündnispartner, die sie schnell und in großer Zahl fanden. Sogar die christdemokratischen Kollegen von der CDA engagierten sich gegen die Pläne ihres Bürgermeisters. „Die Vollprivatisierung konnte abgewendet werden“, sagt er stolz.
29 Prozent hat allerdings der Energieriese EnBW gekauft. Kösters Befürchtungen bestätigen sich. Der neue Anteilseigner erwartet kurzfristige Gewinne. Die Infrastruktur der Stadt sei den Leuten aus Süddeutschland egal, schimpft er. „Als Vodafone noch Mannesmann hieß, spendete die Firma großzügig für die Karnevalsvereine der Stadt. Den Briten aber ist das rheinisch-närrische Treiben nun keinen Cent mehr wert.“ Eine ähnliche Entwicklung fürchtet er bei den Stadtwerkern.
Dabei ist ihm gerade das soziale Engagement seiner Firma wichtig. Manchmal unterstützen die Stadtwerke ganz praktisch soziale Einrichtungen. Vor einigen Wochen habe er selbst in dem Park eines Altenheimes der Diakonie die Hecken geschnitten. Köster sagt: „Die Yuppies auf den Wahlplakaten sollten die Zerbrechlichkeit ihres eigenen Lebens nicht vergessen.“
Und die SPD, völlig fehlerfrei? Wie alle Sozis, die man in diesen Tagen zwischen Rhein und Ruhr antrifft, verschanzt sich Frank Köster in einer Verteidigungsstellung: „Die Reformen mussten nach 16 Jahren Stagnation schnell gemacht werden, wohl zu schnell.“ Manches habe er auch nicht verstanden. Den Schwachen Hartz IV zu verordnen, dann aber keine Vermögensteuer einzuführen, das kapiere er nicht.
Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger hält Günther Stohmann seine Zigarette senkrecht nach oben. Es soll keine Asche von der Davidoff fallen. Er steht neben einer jungen Genossin in orangefarbenem Kostüm am Wahlkampfstand in Neuss. Diese versucht gerade Autogrammkarten des Landesinnenministers an die desinteressierten Passanten loszuwerden.
Unternehmensberater war der 77-Jährige, bevor er in Rente ging. Ein Kapitalist in der SPD, so tituliert er sich und lächelt. Dabei fing alles ganz anders an. Sein Vater war ein alter Nazi. Er selbst wurde Ende 44 als Sechzehnjähriger eingezogen, erlebte die letzten Tage des Krieges an der Westfront. Im Mai ging er dann zu Fuß nach Hause. 1947 war er in Bielefeld einer der Mitgründer der FDP. Als dann der Nationalliberale Erich Mende FDP-Vorsitzender wurde, verließ er aus Protest die Liberalen. Zu den Sozis kam er erst 1972. Ein guter Freund hatte ihn eingeladen und bei der Feier traf er auf Herbert Wehner. Bis vier in der Frühe diskutierten die beiden. „Habe nie wieder einen Menschen getroffen, der so viel Feuer hat“, sagt Stohmann. Am nächsten Tag trat er in die Partei ein.
Heinz Kühn, auch da fängt Stohmann an zu schwärmen, sei durch und durch Sozialdemokrat gewesen. Kühn wurde 1966 der erste von vier SPD-Ministerpräsidenten in NRW und beerbte den farblosen CDU-Mann Franz Meyers. Und Rau? „Bruder Johannes, ein Vater, ein richtiger Landesvater.“ Clement als Nachfolger habe nicht die Strahlkraft von Rau. Aber er habe trotzdem seine Sache gut gemacht. Bei Peer Steinbrück schließlich habe er zunächst Schlimmes befürchtet. Nun breitet Stohmann die Arme aus und verkündet: „Er ist ein freier, ein herzlicher Mann!“ Ein bisschen wirkt er, als wolle er sich selbst überzeugen. Und kurz darauf fügt er an: „Die Politiker früher, Brandt, Schmidt und eben Wehner, die hatten noch Charisma.“
Wie beurteilt Günther Stohmann Hartz IV? „Alle Parteien haben in den letzten 25 Jahren nur Politik gemacht, die von Wahlkampfgeschenken geprägt war.“ Kohl habe einen Schuldenberg und vier Millionen Arbeitslose hinterlassen. Ja, Müntefering habe mit dem Begriff „Raubtierkapitalismus“ Recht. Früher habe ein Friedrich Flick gesagt: „Entweder ändern sich die Zahlen oder die Köpfe.“ Wenn heutzutage eine Firma Probleme habe, werde doch zuerst der Pförtner und zuletzt der Vorstand gefeuert.
Dann erzählt Günther Stohmann aus seinem Berufsleben. Als Unternehmensberater habe er einmal zwischen Betriebsleitung und Betriebsrat vermitteln müssen. Er schlug beiden eine andere Form der Entlohnung der Arbeiter vor. „Das kriegen Sie beim Chef nie durch“, hörte er vom Betriebsrat. „Das kriegen Sie beim Betriebsrat nie durch“, hörte er vom Chef. Bei einer Tasse Kaffee war schnell eine Einigung zu erzielen. So ungefähr stellt sich Günther Stohmann auch sozialdemokratische Wirtschaftspolitik vor.
„Wenn die Wahl wirklich verloren geht, dann denk ich mit Grauen an den Nachfolger.“ Der CDU-Spitzenkandidat Jürgen Rüttgers sage alle fünf Minuten etwas anderes. Am Morgen verkünde er einen Anstellungsstopp, am Nachmittag verspreche er 5.000 neue Lehrer. „Der ist doch vom Kohl gefeuert worden wegen Unfähigkeit!“ Günther Stohmann bebt jetzt vor Wut. Die Asche kippt von der Davidoff und fällt auf den Gehweg.