: Piraten sind doch auch nur brave Bürger
Im 18. Jahrhundert träumte man von der utopischen Piratenrepublik. Das Staatstheater Oldenburg tut so, als würde es sie neu gründen

Von Jens Fischer
Wie toll ist das denn! Da der Raubtierkapitalismus triumphiert, Rechtspopulisten mehrheitsfähig sind, immer mehr Autokraten regieren und Menschen ihre Ohnmacht in trotzige Staatsferne übersetzen, propagiert das Staatstheater Oldenburg ein bisschen Anarchie und Revolution. Weil „die alte Ordnung einfach nicht mehr funktioniert“, soll sie nicht repariert, sondern von Grund auf neu gebaut werden, wie Regisseur Łukasz Ławicki und Dramaturg Reinar Ortmann in ihrer Stückentwicklung „Piratenrepublik“ formulieren.
Die rufen sie aus und laden zur Gründungsversammlung in die Exhalle. Zu erfahren ist dort, die Stadt Oldenburg wie auch der Landkreis Ammerland würden sich 2027 vom Politikgewurschtel in Berlin sowie Hannover losgesagt und für unabhängig erklärt haben. Fröhliche Rückkehr zur Kleinstaaterei.
Als Vorbild wird David Graebers Buch „Piraten – Die Suche nach der Freiheit“ ins Spiel gebracht. Darin fantasiert der inzwischen verstorbene US-amerikanische Anthropologe aus zumeist nicht überprüfbaren Quellen und reichlich Spekulationen einen egalitären Piratenstaat herbei. Demnach waren die freibeuterischen Vagabunden nie das Assipack der Meere, sondern Robin Hoods gewesen. Sie hätten schon das Leben auf den Schiffen basisdemokratisch gestaltet und 100 Jahre vor der Französischen Revolution ein solidarisches Zusammenleben in Freiheit-Gleichheit-Brüderlichkeit mit der indigenen Bevölkerung auf Madagaskar realisiert. Auch Daniel Dafoe berichtete bereits 1728 von diesem „Libertalia“ als einem mythischen Ort. Wie funktioniert der Utopietransfer nach Oldenburg?
Ein Live-Moderator erinnert erstmal an weitere Vorbilder wie Christiana (Kopenhagen) oder das Wendland und resümiert: „Wir alle waren Bauern in einem politischen Schachspiel der parlamentarischen Demokratie. Genau wie die Piraten der Weltmeere vor Jahrhunderten haben wir gesagt: Es reicht!“
Theater „Piratenrepublik“, Oldenburgisches Staatstheater, Exhalle, wieder am 22., 26., 28. und 29. 5. sowie 2.,4. und 6. 6., jeweils um 20 Uhr
Nun wird der Theaterabend zur Wahlveranstaltung. Das Publikum ist das Abstimmvolk, einige Besucher:innen dürfen auch „Presse“ spielen, ohne dass ersichtlich ist, ob wirklich sie die reißerischen Zeitungsschlagzeilen und wohlbekannt dümmlichen Chat-Posts formulieren, die auf einer riesigen Videowand die laufende Veranstaltung kommentieren.
Zwei Kandidatinnen der neuen Oldenburger Republik tänzeln wie Stars die Theater- als Showtreppe herab – im weißen Anzug und Sneakern die grätzige Frauke Stein (Esther Berkel). Sie ist privat mit einer Frau liiert, beharrt aber darauf, nicht queer zu sein – setzt auch sonst auf Alice-Weidel-Anmutung und operiert mit Phrasen aus dem CDU-/FDP-/AfD-Repertoire.
Im schwarzen Anzug und roten Pumps kommt Liselotte Meyer (Anna Seeberger) mit stählern-stocksteifer Sahra-Wagenknecht-Eleganz und mit Linken- wie auch SPD-Phrasen daher. In ihrem vorsichtig demagogischen Jargon improvisieren beide auch Antworten auf Publikumsfragen. Die Floskel-Kontroversen des Themen-Zappings sind im keifenden Kampfhennen-Duktus aber inhaltlich so langweilig wie echte TV-Polit-Talk-Shows, gerade weil deren Repräsentationsmechanismen nur reproduziert, nicht aufgebrochen, analysiert oder satirisch zugespitzt werden, sodass ihre Regeln kenntlich würden.
Das Publikum wählt zur Pause die Sozialliberale, nach der Pause wird aber die Wirtschaftsliberale zur Präsidentin und die Kollegin zur Stellvertreterin gekürt. Warum die nun auch eine dynamische Entsolidarisierung der Gesellschaft mitträgt und Sozialdarwinismus fördert, dafür haben die Theatermacher auch nur die alte Macht-verdirbt-den-Charakter-These in petto.
Liselotte Meyer passt ihre Werte dem Machterhalt, nicht das politische Handeln ihren Werten an. Sodass zumindest der Pressesprecher mal kurz ins Zweifeln und Stottern kommt. Aber anstatt sich wirklich mit libertären Lebens- und Gesellschaftsformen oder den anregenden Ideen David Graebers auseinanderzusetzen, gibt es am Staatstheater nur eine Aufführung allzu bekannter Politiker:innen-Inszenierungen. Statt Piraten- nur Berliner Republik. Kein Hauch von Freiheit. Thema verfehlt. Leider.
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