: „Wir leiden am Karpaten-Komplex“
Er ist der Lieblingsschriftsteller von Wiktor Juschtschenko: Juri Andruchowytsch über die Ukraine vor der Wende, den Trend zur ukrainischen Sprachesowie seinen neuen, gefeierten Roman „Zwölf Ringe“
VON KATHARINA GRANZIN
taz: Herr Andruchowytsch, Ihr neuer Roman „Zwölf Ringe“ spielt in den Karpaten, in einer einsam gelegenen Bergpension, wo ein paar Leute zusammen das Wochenende verbringen. Ein deutscher Rezensent bekannte, meist habe er beim Lesen Bram Stokers „Dracula“ assoziiert. Haben Sie daran beim Schreiben auch gedacht?
Juri Andruchowytsch: Den Roman habe ich, ehrlich gesagt, nie gelesen, aber einige Filmversionen davon gesehen. Es gibt in meinem Buch ein paar kleine Anspielungen darauf. Allerdings wird Transsilvanien häufig erwähnt. Das ist leicht zu erklären: Der Ort, an dem mein Roman spielt, ist ein rein imaginärer Ort.
Wenn ich ihn nun geografisch bestimme und sage, er liege etwa an der Grenze zu Rumänien oder zur Slowakei, schade ich damit dieser Imagination. Ich brauchte ein Land in der Nachbarschaft, das als konkretes, politisches Land nicht existiert.
Benutzen Sie solche assoziativ aufgeladenen Versatzstücke gezielt, um die Szenerie für den westlichen Leser exotisch wirken zu lassen?
Wenn hier Exotik eine Rolle spielt, dann gibt es sie auch für die ukrainischen Leser, nicht nur für die westlichen. In unserer Kultur gab es etwas, das man als den „Karpaten-Komplex“ bezeichnen könnte: die Verkitschung der huzulischen, der Karpaten-Kultur, die eigentlich eine hoch entwickelte Volkskunst war. Während der Sowjetzeit wurde diese Folklore in einer regelrechten Souvenir-Industrie verwurstet – mit dazugehöriger Volksmusik und entsprechend kitschiger Literatur: Ach, wie schön sind die Karpaten, ach, die schönen Blümchen, ach, die wunderbaren Huzulinnen – schrecklich! Das gibt es jetzt zwar weniger, aber auch diesen Diskurs parodiere ich im Roman.
Gleichzeitig wollte ich eine andere Seite dieser Welt zeigen: wie grausam und armselig die Wirklichkeit dort ist.
Welchen Anteil hat denn die ukrainische Wirklichkeit in Ihrem Roman? Ist die Spelunke, wo der österreichische Fotograf Karl-Joseph auf zwei finstere Typen trifft, die ihn später umbringen, ein Ort aus dieser Wirklichkeit?
Ein Beispiel daraus, ja. Es gibt sehr viele Arbeitslose, sehr viele Deklassierte und Traumatisierte hier, so wie Karl-Josephs Mörder. Einer von ihnen ist ein Kleinkrimineller, der gerade aus dem Knast gekommen ist, der andere ist ein Afghanistan-Veteran: ganz typische Figuren.
Ein anderes Thema aus der Wirklichkeit ist die Verhaftung des Schriftstellers Artur Pepa. Ich habe „Zwölf Ringe“ von 2001 bis 2003 geschrieben, während Kutschmas zweiter Amtszeit als Präsident. Das war die Zeit des entwickelten „Kutschmismus“, wie man bei uns sagte – die Zeit höchster Hoffnungslosigkeit, massenhafter Emigration.
Die Zahl der ukrainischen Schwarzarbeiter vor allem in Südwesteuropa ist in den Kutschma-Jahren drastisch angestiegen. Das System war sehr raffiniert, Kutschmas Leute kontrollierten alles: Die Miliz war dem Präsidenten direkt unterstellt und führte alle seine verbrecherischen Befehle aus. Auch der Mord an dem Journalisten Georgi Gongadse, der 2000 entführt und später enthauptet aufgefunden wurde, ging auf ihr Konto. Ich habe Gongadse gut gekannt.
Ist Ihr Roman noch zu Zeiten des „Kutschmismus“ in der Ukraine erschienen?
Ja, im September 2003.
Bekommt man da als Schriftsteller, der den staatlichen Machtmissbrauch angreift, nicht große Probleme?
Die damaligen Machthaber hatten überhaupt kein Interesse an der Literatur; anders als noch in der Sowjetzeit. Die älteren ukrainischen Schriftsteller beklagten sich in den Neunzigerjahren sehr, dass die neue Regierung die Literatur nicht unterstützt, ja nicht einmal in ihre Richtung guckt. Ich dagegen habe schon damals gesagt, dass wir glücklich mit der Situation sein sollten. Wir Schriftsteller waren ganz frei. Denn eben dadurch, dass die Regierung sich nicht für die Literatur interessierte, tat sie schon ziemlich viel für sie.
Hat sich das Verhältnis zwischen Regierung und Schriftstellern nun unter Juschtschenko geändert?
Juschtschenko sagt in Interviews, dass er meine Bücher sehr gerne liest. (lacht) Ich weiß nicht, ob das stimmt. Wir haben uns nur einmal getroffen, vor den Parlamentswahlen 2002. Er kam im Wahlkampf auch nach Iwano- Frankiwsk in der Westukraine, wo ich lebe. Sein Team organisierte für ihn ein Treffen mit jungen Künstlern. Sie hatten mich gefragt, ob ich mit ihm zu Abend essen möchte, und ich sagte, lasst uns noch zehn meiner Kollegen einladen, Maler, Schriftsteller, und so etwas wie einen runden Tisch machen. Sie gaben Juschtschenko also meine Romane und sagten, in einer Woche treffen wir uns mit diesem Autor. Und er fuhr in seinem Wahlkampfbus durch die Ukraine, von Stadt zu Stadt, und las dabei meine Romane. Seitdem sagt er immer, ich sei sein Lieblingsschriftsteller. Ansonsten sind die neuen Machthabenden wohl eher keine Literaturfans. Bei Julia Timoschenko etwa kann ich es mir nicht so vorstellen. Bei Juschtschenko glaube ich es schon, denn auf seine Art ist er selbst ein Fantast. Er ist zum Beispiel ein passionierter Bienenzüchter. Und er malt Bilder.
Ist er denn talentiert?
Seine Malerei ist sehr traditionell: mit typisch ukrainischen Landschaften, wogenden Kornfeldern und dergleichen.
Ihre drei ersten Romane wurden noch nicht ins Deutsche übersetzt. Sind weitere Übersetzungen geplant?
Wahrscheinlich wird mein zweiter Roman, „Moskoviada“, meine nächste Veröffentlichung auf Deutsch sein. Ich habe ihn sogar in Deutschland geschrieben, als ich 1992 drei Monate als Stipendiat in der Villa Waldberta bei München war. Er ist eine Art Abrechnung mit der Sowjetunion: Erzählt wird ein Tag im Leben eines ukrainischen Dichters, der in Moskau studiert. Die Handlung spielt Ende Mai 1991, also ein paar Monate vor dem Putsch und dem Zerfall des Imperiums. Der Dichter wandert durch Moskau und wird dabei immer betrunkener. Es ist recht lustig.
Um was geht es in Ihren beiden anderen Romanen?
Mein erster Roman „Rekreacij“ erzählt die Geschichte einer Nacht in einem kleinen Karpatenstädtchen, wo ein riesiges Festival stattfindet. Und mein dritter, „Perverzija“, kreist um das rätselhafte Verschwinden eines ukrainischen Dichters in Venedig. Der Roman besteht aus seinem schriftlichen Nachlass: verschiedene Dokumente, Erinnerungen, Interviews, die er gegeben hat, seine Notizbücher. Der Leser kann das Geschehene aus diesen Fragmenten selbst konstruieren. Es ist ein rein postmoderner Roman.
Das ist ein Stichwort, das in Zusammenhang mit Ihrem Werk immer fällt. Fühlen Sie sich mit dem Begriff „postmodern“ denn wohl?
(lacht) Nein. Nachdem ich „Perverzija“ veröffentlicht hatte, wurde ich von der Kritik als postmoderner Autor beschimpft. Dann erschien „Zwölf Ringe“, und es kamen wieder negative, aber ganz anders gelagerte Reaktionen. Die Kritiker schrieben: „Nach den brillanten postmodernen Eskapaden in ‚Perverzija‘ nun so ein primitiver realistischer Text.“ Also, das ist einfach mein Schicksal. Ich werde von einigen ukrainischen Kritikern sehr gehasst. Was mich rettet, ist die große Liebe des Publikums. Es liest nicht die Kritiken, sondern gleich meine Bücher. Und es kommt zu meinen Lesungen. Ohne Lesungen könnte ich überhaupt nicht leben. Machmal glaube ich, dass ich schreibe, um laut zu lesen.
Sie sind ja ursprünglich als dichtender Performer mit Ihrer Gruppe Bu-Ba-Bu bekannt geworden …
Ja. Die Abkürzung steht für „Burlesk-Balagan-Buffonada“. Ich habe die Gruppe mit zwei Freunden, den Dichtern Wiktor Neborak und Olexander Irwanez, im April 1985 gegründet. Wir wollten Gedichte schreiben, die so provokativ sind, dass sie auch Leute aufwecken, die nur zu Lesungen gehen, um dort in Ruhe zu schlafen.
Thematisch haben wir viel Neues gemacht, vor allem die Welt der städtischen Jugend in die Lyrik gebracht. Auch lautlich sollten die Gedichte möglichst effektvoll sein. Auf der Bühne gab es dann eine Art Spiel, eine Improvisation zwischen uns dreien, wer nach wem liest und was er liest, und wie wir gegenseitig unsere Gedichte kommentierten. Eine andere Lesung fand um acht Uhr morgens in der Lemberger Oper statt. Das Haus war voll! Wir schliefen auf der Bühne, als der Vorhang hochging, dann standen wir auf und begannen die Show. Versteckt im Orchestergraben saß das Opernorchester und spielte für uns Beethovens Fünfte. Auf ein verabredetes Stichwort ging es los mit „Da-da-da-daaa“. Und während der Beethoven spielte, las jeder von uns noch ein letztes Gedicht, ganz hochpathetisch.
Sind Sie mit Ihren Aktionen durch die Ukraine getourt?
Eigentlich nicht so viel. In Lemberg und Kiew sind wir oft aufgetreten, natürlich in unseren Heimatstädten, und einige Lesungen hatten wir in der Ostukraine.
Das war der Anfang eines sehr interessanten Prozesses: dass da auch Leute, die nur Russisch sprechen, zu einer solchen Lesung kamen und sagten, oh, das ist unsere wunderbare ukrainische Literatur, die ist doch viel besser als die russische.
Gibt es mittlerweile eine Tendenz, sich dem Ukrainischen verstärkt zuzuwenden?
Ja. Das habe ich jetzt, im Februar dieses Jahres, in der Ostukraine ganz klar gesehen, als ich auf Konzertreise mit polnischen Jazzmusikern war, mit denen ich eine CD aufgenommen habe. Die beiden besten Konzerte hatten wir gerade im Osten, in Charkiw und Dnipropetrowsk, russischsprachige große Industriestädte. Es war sehr voll, das Publikum sehr enthusiastisch, und 95 Prozent waren Jugendliche.
Diese junge Generation ist bestimmt schon zweisprachig: Miteinander sprechen sie russisch, haben aber keine Probleme mit dem Ukrainischen. Sie lesen meine Texte. In Dnipropetrowsk habe ich Bücher und CDs signiert: Die Leute standen eine Stunde lang Schlange! Eine Gruppe junger Leute war aus Saporoshje gekommen, das zweihundert Kilometer weit weg ist! Ich war stolz und berührt. Manche sagen: Tut uns leid, dass wir noch nicht so gut Ukrainisch sprechen, aber wir mühen uns.
Die Zweisprachigkeit das Landes ist nicht wirklich ein Problem, wenn die Politiker nicht gerade Wahlkampf führen und die Sprache zum Problem machen. In der Gesamttendenz aber wird das Ukrainische wahrscheinlich mehr und mehr gewinnen.