piwik no script img

Ausgehen und rumstehen von Marielle Kreienborg70 Millionen Currywürste und Kartoffelsalat

Am Wochenende verlasse ich Neukölln in Richtung des reichen Bezirks Zehlendorf. Sein Villenprunk plättete mich schon als Studentin bei jeder Anreise. Zehn Jahre später kehre ich zurück, um mir gemeinsam mit meinem Neuköllner Nachbarschaftstreff die Domäne Dahlem anzusehen: eine Mischung aus Freilandmuseum und Biobauernhof auf einem ehemaligen Rittergut.

Doch bevor wir an Sperrmüllberge und Ratten gewöhnten Be­woh­ne­r:in­nen der Weißen Siedlung überhaupt in die Nähe jener Naturoase kommen, bricht erst einmal ein Streit vom Zaun: Einige haben nämlich mitbekommen, dass andere nicht die Öffis zur Anreise nutzen, sondern „Taxe fahren“.

Der Reisegruppe Öffis stößt das sauer auf: „Die können sehr wohl. Die wollen bloß nicht!“ „Und das ist ja auch weit, janz raus bis nach Zehlendorf!“ „Was man alles machen könnte mit dem Geld!“ Schließlich einigt man sich darauf, dass die Taxe sicher im Stau stehen und man selbst somit vor den Gehfaulen am Ziel sein würde.

Dieser Gedanke spendet Trost, und endlich fahren wir los. Wir, damit meine ich die alters- wie herkunftsbedingt heterogene Gruppe, die in den Hochhäusern der Weißen Siedlung lebt: Gisela, die mit ihren dreiundachtzig Jahren im Erstbezug seit über fünfzig Jahren in der Siedlung lebt, Mona, die das wöchentliche Frauenfrühstück organisiert, aber auch Elif und Eymen, die drei und fünf und ziemlich aufgeregt sind, weil sie heute vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben eine Kuh sehen.

Meinen Sitznachbarn Erwin kenne ich bereits vom letzten Ausflug: im „Spreepark Art Space“ und der Ausstellung zum ehemaligen Vergnügungspark ließ er für jeden Pfannkuchen, den wir am Ende vorm Eierhäuschen verspeisten, auch einen in seine Jackentasche wandern.

„Wo fahren wir eigentlich hin?“, fragt er mich jetzt. Ich grinse, denn ich finde es jedes Mal wieder verwunderlich, wie egal den meisten Älteren die Ziele unserer Ausflüge sind. Jedes Zusammensein ist für sie besser als Einsamkeit. „Domäne Dahlem“, antworte ich. „Düppel?“, fragt Erwin. „Dümpeln?!“, frage ich verwirrt. „Ne. Dahlem. Daaaaaaaaahlem.“ – „In Düppel“, erklärt Erwin und mir Anna-Lena, die Leiterin des Kulturprojektes, das unsere monatlichen Ausflüge ermöglicht, „wart ihr im letzten Jahr. Da wart ihr im Museumsdorf. Mit Eileen damals noch.“ – „Eileen!“ Ein Strahlen macht sich breit auf Erwins Gesicht: „Die war ne janz Tolle!“ Dann, nach kurzer Stille: „Wat nich heißn soll, dass du nich och nett bist!“

Als wir nach aufregendem Umsteigen schließlich in Dahlem-Dorf aus der U-Bahn tuckern, begrüßt uns ein Regenschauer. Wir steuern also zunächst das Museum „Culinarium“ zur Kulturgeschichte der Ernährung in einem restaurierten Pferdestall an: und lernen, eine Kuh zu melken, die Anzahl existierender italienischer Nudelsorten (350) und wie viele Currywürste die Menschen allein in Berlin jedes Jahr vertilgen (70 Millionen!).

Eine Stunde später hält der Regen immer noch an und aus dem geplanten Picknick auf den Feldern wird ein Essen im Landgasthaus. Dort weiten zwei Ereignisse die Augen des Berliner Urschleims: „Haste jesehen?! 6,50 € für Kartoffelsalat!“ Am Ende bestellen sie ihn natürlich trotzdem: „aba mit Knacker“ und die Käse-Lauch-Suppe – „aba schön mit Cabanossi“.

„Die war ne janz Tolle! … Wat nich heißn soll, dass du nich och nett bist!“

Denn nun will die größte Sehenswürdigkeit des Tages am Tisch gegenüber bestaunt werden: Eine ältere Frau hat dort einen weitaus jüngeren Mann geheiratet. „Das sind ja jut und jerne zwanzig Jahre“, raunt Gisela, fasziniert, und starrt Braut und Bräutigam an. Dann gluckst sie: „Nu, ’n paar Jährchen hab ick ja noch … vielleicht …kommt dit in Zukunft ja noch öfter vor!“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen