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Alles muss man selber machen

Manche Erkrankungen sind von so geringem Interesse für die Forschung, dass Pa­ti­en­t*in­nen und ihren Angehörigen nur eine Chance bleibt: selbst aktiv werden. Dafür gibt es sehr erfolgreiche Vorbilder

Von Manuela Heim

Es beginnt damit, dass es keine Antworten gibt. Eine Person selbst oder ihr Kind leidet unter Symptomen einer Erkrankung, die kaum oder gar nicht erforscht ist. Vielleicht mit einem Namen, den man noch nie gehört hat. Oder nicht einmal mit einem Namen. So viele Fragen: Wo kommt das her, was ist die genaue Diagnose, was können wir dagegen tun, was bedeutet das für das weitere Leben? Und es gibt keine oder viel zu dürre Antworten.

Schon nach kurzer Zeit sind diese Pa­ti­en­t*in­nen oder ihre Angehörigen bei Arztgesprächen nicht selten diejenigen, die am meisten über ihre Krankheit wissen. Nicht nur, weil die wenigen Kenntnisse mühsam zusammengetragen werden müssen. Sondern vor allem, weil ihr Interesse an der Krankheit viel existenzieller ist, als es für die behandelnden Ärz­t*in­nen je sein wird.

In der Regel überlässt die Fachwelt den Betroffenen und ihren Angehörigen nur den Bereich der Selbsthilfegruppen. Dass ihre Perspektive und Expertise auch in der Forschung von Wert sind – diese Sichtweise ist vergleichsweise neu. Manchmal aber gibt es ohne das Engagement der Betroffenen gar keine nennenswerte Forschung. Ein leuchtendes Beispiel ist die Erforschung von Progerie – einer Erkrankung, die Kinder vorzeitig altern und lange vor ihrer Zeit sterben lässt.

Die US-Amerikanerin Leslie Gordon ist Medizinerin und Gründerin der Progeria Research Foundation, die seit mehr als 20 Jahren die Erforschung und Behandlung von Progerie maßgeblich geprägt hat. „Aber ich bin vor allem eine Mom und da kommt all das her“, sagte Leslie Gordon vor einiger Zeit bei einem Fachvortrag vor Eltern und Wissenschaftler*innen. Ihr Sohn Sam bekam 1998 mit kaum zwei Jahren die Diagnose Progerie. Damals arbeitete fast niemand an der Erforschung dieser Krankheit. Es war noch nicht einmal bekannt, dass es sich um eine genetische Erkrankung handelt. Es gab keine Forschungsgelder und für Familien und Ärzt*in­nen weder ausreichende Information noch Möglichkeiten der Behandlung. Und so gründeten Gordon und ihr Mann die Progeria Research Foundation, die sich bis heute der Suche nach einer Heilung der tödlichen Erkrankung verschreibt. Ein Engagement, das die Lebenspanne ihres eigenen Sohns überdauert: Sam starb 2014 im Alter von 17 Jahren.

Progerie ist so selten, dass es in vielen Ländern nur ein einziges Kind, eine einzige Familie gibt, die damit lebt. Entsprechend groß ist die Isolation der Betroffenen – und das, so berichten auch andere Eltern, gehört zu den traurigsten und frustrierendsten Erfahrungen. Der erste Schritt, berichtet Gordon, war daher der Aufbau eines Patient*innenregisters. Nicht nur zur Vernetzung der Familien, sondern eben auch als Basis für die Forschung. Auf Konferenzen brachte die Progeria Research Foundation Wis­sen­schaft­le­r*in­nen zusammen, sammelte Millionen für Forschungsvorhaben und Arzneimittelstudien, veröffentlichte Handbücher in Dutzenden Sprachen für Eltern und Fachkräfte.

Dass die genetische Ursache von Progerie inzwischen erforscht ist, dass es seit einigen Jahren ein Medikament gibt, das die Lebenserwartung der Kinder um Jahre verlängert, und dass es inzwischen sogar die Aussicht gibt, die Krankheit aufzuhalten – ohne die Progeria Research Foundation, ohne das Engagement Betroffener wäre das undenkbar. Inzwischen berät Leslie Gordon auch andere Initiativen. „Niemand kann es so gut machen wie ihr“, ruft sie den Eltern zu, die mit ihrem Beitrag für die Erforschung anderer seltener Erkrankungen noch am Anfang stehen. Zumindest die Möglichkeiten der globalen Vernetzung und der medizinische Fortschritt, der etwa genetische Forschung günstiger macht, arbeiten für sie.

Ein solches Engagement Betroffener erfordert Ressourcen, die im Alltag mit einer schweren Krankheit wenige übrig haben. Das Beispiel der Progeria Research Foundation ist dennoch eine Ermutigung: Pa­ti­en­t*in­nen­in­iti­ier­te Forschung ist eine Chance, die Leerstelle zu füllen, die die Fachwelt bei vielen Krankheitsbildern klaffen lässt. Für Antworten, die es sonst nicht geben würde.

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