: Eine Dekade später
„An Unfinished Film“ von Lou Ye verbindet die jüngeren Umbrüche in China, Homosexualität und die Coronapandemie im Stil eines Thrillers als Film im Film
Von Fabian Tietke
Im Sommer 2019, ein gutes halbes Jahr vor Beginn der Coronapandemie, schließt ein Filmteam einen alten Computer mit Aufnahmen eines unbeendeten Films an. Über den Monitor auf dem Schneideraum laufen zehn Jahre alte Szenen der Liebesgeschichte zwischen dem jungen Jiang Chen und einem anderen jungen Mann, der aber zugleich mit einer jungen Frau zusammen ist. Als alle Szenen gelaufen sind, stößt das Filmteam auf die Wiederentdeckung an. Doch als Regisseur Xiaorui vorschlägt, das zehn Jahre alte Filmprojekt wieder aufzugreifen, weicht die festliche Stimmung Sprachlosigkeit. „An Unfinished Film“, der neue Film des chinesischen Regisseurs Lou Ye, beginnt als Vexierspiel zwischen Realität und Fiktion. Yes Film feierte vor fast genau einem Jahr als Special der offiziellen Auswahl des Filmfestivals in Cannes Weltpremiere.
Lou Yes Arbeit an dem Film begann genauso, wie es „An Unfinished Film“ zeigt: Sein Filmteam und er entdeckten auf einem alten Computer nicht verwendete Aufnahmen und dokumentarisches Material von Arbeiten an früheren Filmen Yes. Die Aufnahmen, die nun als Teil eines fiktionalen Projekts über den Monitor im Schneideraum laufen, stammen von der Arbeit „Spring Fever“.
Ob zehn Jahre eine lange Zeit sind, ist eine Frage des Kontextes. In der Volksrepublik China macht eine Dekade einen zentralen Unterschied. So wirkte Staatspräsident Xi Jinping, bis er 2018 die Beschränkung für die Amtsdauer aufheben ließ, in der Reihe derjenigen, die die Geschicke der Volksrepublik nach Maos mörderischer Kulturrevolution lenkten, durchaus nicht ungewöhnlich. Wenn Regisseur Xiaorui und sein Filmteam also zu Beginn von Lou Yes „An Unfinished Film“ einen zehn Jahre alten Computer wieder anschließen, um Aufnahmen eines unvollendeten Filmprojekts von 2009 zu sichten, verweisen die Aufnahmen zurück in eine andere Ära.
Am Ende der Anfangsszene bittet der Regisseur (gespielt vom Fernsehregisseur Xiaorui Mao) alle Mitarbeiter:innen, ihn mit dem Hauptdarsteller allein zu lassen. Sein Protagonist Jiang Chen (Qin Hao) ist zögerlich: Der Idealismus von damals ist verflogen, und wozu der Aufwand, nur um einen Film fertigzustellen, der ohnehin angesichts der offenen Darstellung von Homosexualität nicht die Zensur passieren würde. Als Jiang Chen dem Regisseur schon fast abgesagt hat, bleibt sein Blick auf seinem jüngeren Ich hängen, wie es auf dem Monitor eingefroren ist. Jung, unbeschwert, scheinbar glücklich auf dem Rücksitz eines Autos, den Kopf nach links gewandt.
Letztlich bekommt der Regisseur seinen Willen, und kurz vor dem chinesischen Neujahrsfest 2020 ist das Team am Drehen. Während das Filmprojekt allmählich vorankommt, sieht die Filmcrew auf ihren Handys erste Bilder aus Wuhan aus den ersten Tagen der Pandemie. Wie ein Lauffeuer verbreiten sich am Set die Nachrichten, dass andere Drehs abgebrochen wurden. Der Frisör des Filmteams, der aus Wuhan kommt, muss das Hotel und das Set verlassen. Eilig wird Ausrüstung zusammengepackt. Während der Regisseur noch hofft, den Dreh fortsetzen zu können, beginnt sein Set zu verschwinden. Letztlich beugt er sich und bricht den Dreh ab. Doch als die Crew abreisen will, riegeln die Behörden wegen eines Infektionsfalls das Hotel ab. Die Crew sitzt im Hotel fest.
Ursprünglich hätte „An Unfinished Film“ die Veränderungen in der Volksrepublik im Laufe des letzten Jahrzehnts anhand der Karriere des Schauspielers Qin Hao und Yes Zusammenarbeit mit ihm widerspiegeln sollen. Man kann diese Intention gerade zu Beginn des Films noch erahnen. Durch den realen Einbruch der Pandemie in die Arbeit an dem Film veränderte sich dessen Ausrichtung. Die Drehbuchautorin Yingli Ma schrieb den Film gemeinsam mit Lou Ye, ihrem Mann und Koautor, grundlegend um. Ma studierte Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin und wirkte seit „Summer Palace“ (2006) an Yes Filmen mit.
Ye selbst wiederum ist Teil jener Gruppe chinesischer Filmemacher, die Ende der 1990er Jahre, Anfang der 2000er Jahre als Sechste Generation bekannt wurde. In einer Ironie der Filmgeschichte endete mit dieser Gruppe von Filmemachern, die dem Film der Volksrepublik nach dem Ende der Kulturrevolution den Realismus wiederschenkte, die traditionelle Epochengliederung nach Jahrgangsclustern von Absolvent:innen der Filmakademie in Peking. Auf die sechste Generation folgte keine siebte. Die Freiheit, die Ye und seine Kollegen wie Jia Zhang-ke, Zhang Yuan, Wang Xiaoshuai zu Beginn ihrer Karriere genossen haben, ist einer Enge gewichen, die sich gleichermaßen aus dem Drang zum Kommerz und der Ideologie der politischen Führung unter Xi speist.
„An Unfinished Film“ zeigt den Einbruch der Pandemie in die Arbeit des Filmteams spannend wie einen Thriller. Mit großer Eleganz baut der Film einige der Videoclips aus der Zeit der Pandemie ein und lässt uns diese mit den Augen der Crew in der Isolation ihrer Hotelzimmer neu sehen. Wie beiläufig macht der Film so das Ringen der Regierung der Volksrepublik um die Deutungshoheit während der Pandemie sichtbar. Zum Neujahrsfest 2021 eskaliert der Gruppenchat und das Filmteam strömt aus der Isolation in ihren Zimmer auf die Hotelflure – bis der Sicherheitsdienst sie wieder zurück in die Zimmer drängt. „An Unfinished Film“ löst die ursprüngliche Idee ein, die Veränderungen der letzten Dekade in der Volksrepublik sichtbar zu machen. Nur eben ganz anders als ursprünglich geplant.
„An Unfinished Film“. Regie: Lou Ye. Mit Qin Hao, Mao Xiaorui u. a. Singapur/Deutschland 2024, 107 Min.
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