Erica Zingher Grauzone: Menschlichkeit auf unscheinbaren Bänken
Zwei Bänke stehen vor meinem Haus. Unscheinbare Bänke, die ich aus meinem Fenster sehen kann, wenn die Bäume keine Blätter tragen, im Winter. Es sind gewöhnliche Bänke, auf denen ungewöhnliche Menschen sitzen. Menschen, die anderswo keinen Platz finden. Keine Spaziergänger, keine Rentner mit Einkäufen, nie Eltern mit Kinderwagen. Auf den Bänken sitzt, wer aus Wohnungen, Beziehungen, Systemen gefallen ist. Ich denke viel über diese Menschen nach. Da sind junge Liebespaare, Pubertierende, eng ineinander verschlungen. Mädchen mit Kopftuch auf den Knien ihrer Angebeteten. Ich stelle mir vor, dass sie in ihren konservativen Familien niemals so ungestört übereinanderliegen könnten. Die Bänke bieten ihnen einen Ort, ohne Fragen zu stellen, ohne über sie zu urteilen.
Ich beobachte Jungs mit zartem Flaum über der Lippe. Sie reichen sich Joints, auch bei Minusgraden. Wenn ich sie passiere, hängt mir noch lange der Geruch von Deo und Energydrinks in der Nase.
Zwei Männer trinken stumm ihre Feierabendbiere, schauen polnische Videos auf ihrem Handy. Nie gemeinsam, immer abwechselnd. Vielleicht trinken sie hier, weil es zu Hause nicht geht, weil sie Ruhe vor ihrer Frau brauchen, vor ihren Fragen. Vielleicht leben sie nicht mehr wirklich zu Hause. Nur noch irgendwo. Auch einer meiner Nachbarn sitzt dort. Ein alter Mann, sehbehindert, Kettenraucher, bleich wie ein Geist. Nur selten besucht ihn jemand. Manchmal schleicht er durch den Hausflur. Begegne ich ihm, ruft er mir jedes Mal zu: „Vorsicht, aufpassen, ich stehe hier, nicht erschrecken!“, als sei ich diejenige, die ihn nicht sieht. Die ihn übersehen könnte. Vielleicht sitzt er auf den Bänken, weil ihn drinnen niemand erwartet. Weil er draußen wenigstens ein wenig Leben mitbekommt. Wer weiß, denke ich, vielleicht.
Diese Bänke halten, was die Gesellschaft nicht hält. Ich meine das nicht romantisch. Nichts an diesen Bänken ist romantisch. Für viele sind sie der letzte Ort vor dem Verschwinden. Obdachlose zum Beispiel. Menschen, deren Anblick irritiert, verstört – weil er daran erinnert, dass das Leben auch andere Wege nehmen kann. Nicht die geplanten, sondern die katastrophalen.
Als ich neulich an meinen Bänken vorbeilief, dachte ich an Friedrich Merz. Auch er saß in dieser Woche auf einer Bank. Einer Wahlbank. Sie wackelte kurz, dann war alles wieder festgezurrt. Kanzler wurde er trotzdem.
Hier erscheinen zwei Kolumnen im Wechsel. Nächste Woche: „Geraschel“ von Doris Akrap
Ich frage mich: Wird Merz sich als Kanzler, wird diese neue Bundesregierung sich um die anderen Bänke im Land kümmern? Die unbequemen? Die, auf denen niemand freiwillig schläft? Wird sie verhindern, dass Bänke zu Wohnräumen werden müssen?
In der S-Bahn lag neulich ein Mann quer über vier Sitze. Obdachlos vermutlich, vor sich hin dämmernd. Um ihn herum seine Habseligkeiten in Plastiktüten. Eine davon tropfte. Eine stinkende Spur zog sich wie ein Fluss durch den Waggon. Niemand sagte etwas. Ich folgte der Spur, setzte mich ans andere Ende. Bald stieg eine Schulklasse ein. Eine Gruppe von Mädchen quetschte sich zu mir. Sie tuschelten. „Denkst du, der hat da hingemacht?“, fragte eine. – „Bestimmt war er betrunken“, sagte eine andere. Und dann, fast beiläufig: „Ich kenne Menschen, die das machen.“ Dieser Satz traf mich mehr als alles andere. Weil in ihm eine Ahnung steckte. Eine Traurigkeit. Und ein feiner Sinn für das, was ist. Nicht: Wie kann man nur so leben? Sondern: Ich kenne Menschen, die das machen.
Noch Tage später hallt der Satz nach. Vielleicht sind es genau solche Sätze, beiläufig im Alltag fallen gelassen, die zeigen, wie viel Menschlichkeit möglich ist. Nicht in großen Gesten, sondern im Wahrnehmen der anderen. Auf Bänken, in Zügen, am Rande eben. Wenn man nur hinsieht.
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