sozialkunde
: Die Soziologie muss wieder scheitern können – Charles Tillys Forderung nach mehr Formalismen

Die Physik hat sich von der Mechanik zur Quantenmechanik entwickelt – steht der Soziologie ein ähnlicher Sprung bevor?

Aus ihrem Mangel an Resonanz mit der aktuellen Gesellschaft gibt es für die Soziologie vielleicht einen Ausweg. Sie muss sich wieder eine Form geben, in der sie scheitern kann. Daran fehlt es, solange die Soziologie sich auf Post-hoc-Erklärungen beschränkt, das heißt, solange sie im Nachhinein plausible Beschreibungen und Erklärungen für Geschehnisse liefert, die schon passiert sind. Denn nachher sind alle klüger. Die Soziologie müsste versuchen, zumindest in Sachen Gesellschaft, Kommunikation und Sozialordnung vorher klüger zu sein.

Charles Tilly, der Sozialhistoriker an der Columbia University in New York, hat deswegen in Heft 4/2004 der Zeitschrift Sociological Theory die Forderung aufgestellt, dass die Soziologie viel mehr mit Formalismen arbeiten müsse, als es bisher üblich sei. Ein Formalismus bestehe aus einer Menge von Elementen, die untereinander in Beziehungen stehen, die man im Vorhinein spezifizieren könne, um anschließend, das heißt nach einem bestimmten Ereignis, beurteilen zu können, ob das eigene Wissen bestimmter sozialer Phänomene ausreicht oder nicht.

Tilly ist in seinen Büchern dieser Empfehlung gefolgt, und dies unter den erschwerten Bedingungen einer historischen Arbeit, die zwangsläufig erst nach den Geschehnissen möglich ist. Ähnlich wie der Netzwerktheoretiker Harrison C. White, der an derselben Universität arbeitet, behandelt er die Geschichte als eine Art Labor, indem er Hypothesen zur Struktur von Städten, Staaten, sozialen Bewegungen oder Revolutionen aufstellt, natürlich bereits belehrt durch deren Geschichte, und dann schaut, ob sich diese Hypothesen für die Vielzahl von Städten, Staaten, Bewegungen und so weiter bestätigen lassen. Das zwingt zu einem theoretischen Zugang, ermöglicht jedoch auch ungeahnte Theoriegewinne.

Für die europäische Geschichte spricht Tilly etwa von einer „bifurcation of violence“, die tendenziell die Zwangsmittel der Gewalt beim Staat monopolisiert, während die Städte sich auf die Kapitalallokation konzentrieren. Von hier aus fällt es leicht, sich bestimmte Dynamiken der Globalisierung näher anzuschauen. Die Geschichte der Arbeit, anderes Beispiel, ist nur zu verstehen, wenn man darauf achtet, wie Zwänge, Belohnungen und Bindungen je unterschiedlich formatiert sein müssen, damit anschließend Arbeitsmärkte ihr höchst begrenztes freies Spiel entfalten können. Auch das ermöglicht zu gegenwärtigen Problemstellungen einen einfachen Zugang, ohne dass man davon ausgehen müsste, ökonomische Theorie und historische Entwicklung für widersprüchliche Erklärungen desselben Phänomens halten zu müssen.

Wie aber sehen diese Formalismen im Einzelnen aus? Die Absicht kann ja nicht sein, sozialwissenschaftliche Arbeiten auf kausale Erklärungen zu beschränken, zumal dies noch nicht einmal in den einst so bewunderten Naturwissenschaften der Fall ist. Von Ursachen und Wirkungen zu sprechen, ist nur für Phänomene möglich, die nicht mehr als drei Faktoren aufweisen, wofür es jedoch im Bereich nichtisolierbarer sozialer Phänomene kein Beispiel gibt. Der eine oder andere Formalismus, der mit herausgehobenen Faktoren wie politischen Verfassungen (Aristoteles), Produktivkräften (Marx), Kommunikationsmedien (Parsons) oder Verbreitungsmedien (Luhmann) arbeitet, soll dadurch nicht ausgeschlossen werden. Aber von einem Unterschied zum Beispiel zwischen einer Buchdruckgesellschaft und einer Computergesellschaft zu reden, ist nur sinnvoll, wenn man mindestens so viele Phänomene sammelt, für die dieser Unterschied keine Rolle spielt, wie Phänomene, für die er eine Rolle spielt.

Tilly wünscht sich Formalismen, die eher mit Beziehungen der Nähe, der Gleichzeitigkeit, der Verknüpfung oder der Ähnlichkeit arbeiten. Darunter stelle ich mir Erklärungsmuster vor, die nicht auf Kausalität, sondern auf Kombinationen von Ablehnung und Anziehung, Imitation und Ansteckung, Abhängigkeit und Unabhängigkeit hinauslaufen. So wie sich die Physik von der Mechanik der Kräfte à la Newton zur Beschreibung von Wahrscheinlichkeitsverteilungen à la Gibbs und darüber hinaus zur Suche nach den schwachen Voraussetzungen starker Restriktionen in der Quantenmechanik Bohrs und Heisenbergs weiterentwickelt hat, müsste man auch der Soziologie konzedieren, mit Begriffen zu arbeiten, die weder von der Alltagssprache noch vom gesunden Menschenverstand so ohne weiteres nachvollzogen werden können. Was für Formalismen wären das und welche Phänomene würde man mit ihnen beleuchten? DIRK BAECKER

Der Autor, Soziologe in Witten/Herdecke, schreibt an dieser Stelle regelmäßig über soziologische Themen – immer am dritten Dienstag eines Monats