: Die Fibel der Versorgung
SYSTEM Seit fünfzig Jahren regelt Kubas „Libreta“ den Bezug von Lebensmitteln. Das soll sich ändern. Bloß: Wann?
OSCAR ESPINOSA CHEPE, ÖKONOM
AUS HAVANNA KNUT HENKEL
Conchita Brando steht in dem kleinen Laden an der Straßenecke Avenida Salvador Allende und lässt sich einen halben Liter Speiseöl in eine Plastikflasche füllen. Sie nimmt die halb volle Flasche mit dem gelben Sonnenblumenöl entgegen und reicht ein rechteckiges Heftchen über den Tresen: die Libreta.
Darin ist alles aufgeführt, auf das sie und ihr Mann Anspruch haben: Das pappige Stück Brot, das sie täglich bei der Bäckerei eine Straße weiter holen, die sieben Pfund Reis, das gute Pfund Bohnen oder die knapp fünf Pfund Zucker, die jeder Kubanerin und jedem Kubaner pro Monat zustehen.
Aus bauchigen Kunststofffässern schöpft der Bodeguero, ein junger Mann in dunklem T-Shirt, die Nahrungsmittel und legt sie auf die Waage. Sogar Kichererbsen – 290 Gramm – und Kaffee – 115 Gramm – hat der junge Mann heute im Angebot, sodass sich der Gang für die pensionierte Schauspielerin und ihren Mann gelohnt hat.
Fein säuberlich wird mit spitzem Bleistift notiert, was die beiden Rentner heute erhalten haben und worauf sie noch Anspruch haben. „Seife und Zahnpasta gab es heute nicht“, sagt Conchita Brando, „aber vielleicht sind sie das nächste Mal da.“ Vielleicht ja auch die Ration Gefrierhuhn von 1.090 Gramm, und das Pfund Hack. Auf das haben Kubas Bewohner nämlich monatlich Anspruch.
Gemeinsam mit ihrem Mann verstaut Brando die Waren, die nur wenige kubanische Peso kosten, in einem Rollwagen. Dann machen sie sich auf den Rückweg zu ihrer Wohnung in der Calle Montero.
„Die Libreta ist für uns ein Stück Alltag, denn letztlich vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht mit dem Büchlein vor die Tür gehen“, sagt Conchita Brando. Fünfzig Jahre ist das Bezugsbüchlein mit dem offiziellen Titel Libreta de Abastecimiento nun im Einsatz. Am 12. März 1962 wurde es eingeführt, um ein sinkendes Warenangebot möglichst gerecht zu verteilen.
System der permanenten Wirtschaftskrise
Eigentlich als Übergangsmaßnahme bis zur erfolgreichen Umstellung der Wirtschaft gedacht, blieb die Fibel den Kubanern bis heute erhalten und ist zu einem Symbol der kubanischen Revolution geworden. Sie gehört genauso zu Kuba wie es die verblichenen Bilder der bärtigen Revolutionäre an den Hauswänden Havannas tun.
Angewiesen auf die staatlich garantierten und hochsubventionierten Lebensmittel sind jedoch nicht mehr alle Kubaner, so argumentierte Lázaro Barredo Medina, der Chefredakteur der Parteizeitung Granma, schon im Jahr 2009.
Da war auf politischer Ebene längst die Entscheidung für das Ende der Libreta gefallen. Laut dem Fidel-Castro-Biografen Ignacio Ramonet haben sich die Brüder Castro schon 2005 darauf geeinigt, da die Kosten von rund einer Milliarde US-Dollar immer schwerer zu finanzieren sind.
Doch so einfach ist das nicht, denn das Rationierungsheft liefert die Basis der Ernährung vieler Familien. Etwa zehn Tage kommt ein Erwachsener mit den subventionierten Produkten aus. Und rund zwanzig Prozent der Bevölkerung können auf den Warenkorb nicht verzichten. Sie gelten offiziellen Studien zufolge als arm.
Für diese Bevölkerungsschicht benötigt die Regierung spezifische Fördersysteme, so der Ökonom vom Forschungsinstitut der kubanischen Wirtschaft, Armando Nova. „Punktuelle statt flächendeckende Förderung lautet die Herausforderung“, sagt der Wissenschaftler. Am Institut wird seit mehreren Jahren über potenzielle Ansätze diskutiert, doch die verantwortlichen Ministerien haben keine alternativen Modelle anzubieten – ein wesentlicher Grund, weshalb im April 2011 auf dem Parteitag der kommunistischen Partei Kubas das Ende der Libreta ein ziemlich kontroverses Thema war.
Die Delegierten beschlossen einen graduellen Ausstieg aus der flächendeckenden Förderung, legten aber kein konkretes Datum fest. Folglich wird das schmale Heft den 11,2 Millionen Kubanern noch eine ganze Weile erhalten bleiben, denn Sozialhilfe a lo Cubano – oder eine sozialistische Form von Hartz IV – sind bisher nicht in Sicht.
Wenig Vertrauen, viel Korruption
Das, kritisieren Experten wie der dissidente Ökonom Oscar Espinosa Chepe, sei ein zentrales Manko der kubanischen Reformen. „Sie gehen nicht weit genug und sind nicht sonderlich gut vorbereitet“, sagt Espinosa Chepe. „Faktisch garantiert die Libreta die Versorgung der bedürftigen Bevölkerungsschichten mit Lebensmitteln nicht, sie subventioniert aber viele Kubaner, die gar keine Hilfen brauchen.“ Zudem sei das System außerordentlich ineffektiv, schließlich müsse jede und jeder dort für die Produkte anstehen, wo sie oder er eben wohne.
Viel Bürokratie und Korruption sind weitere Folgen einer Maßnahme, die Vertrauen in die Versorgung mit Produkten des täglichen Bedarfs schaffen sollte.
Das Vertrauen ist den Kubanern aber längst abhanden gekommen, weil schon die Wirtschaftskrise in den Neunzigern Kubas Bruttoinlandsprodukt binnen drei Jahren um 35 Prozent eindampfen ließ – und die Einwohner in den Läden leere Regale angähnten.
Das ist heute zwar nicht mehr der Fall, aber der Warenkorb ist in den letzten Jahren doch merklich zusammengestrichen worden. Kartoffeln und Erbsen sind seit November 2009 nicht mehr auf der Liste der subventionierten Produkte und müssen auf dem freien Markt eingekauft werden. Zigaretten wurden im September 2010 ersatzlos gestrichen – und im Laufe der Zeit hat man hier und da außerdem die Mengen der jeweiligen Produkte reduziert, so zum Beispiel beim Zucker.
In Kuba wurde das murrend zur Kenntnis genommen. Immerhin liefere die Libreta noch die Basis der Versorgung, findet auch Conchita Brando. Alles andere muss die Rentnerin auf dem freien Markt zukaufen. Oder in den Devisen-Supermärkten, wo mit dem konvertiblen Peso bezahlt werden muss, Kubas zweiter Währung, die eigentlich für Touristen geschaffen wurde.
Ohne die Hilfe ihrer Tochter aus Panama wäre das für Brando kaum machbar.
Auch ein Grund, weshalb es das kleine Heftchen zukünftig geben wird: Ohne die Rationierungsfibel wären die Rentner der Revolución buchstäblich aufgeschmissen – und die machen in Kuba heute sechzehn Prozent der Bevölkerung aus.