Die zarte Miss Marple von Paris

CRIME SCENE Alexandra Kardinar und Volker Schlecht machen aus E.T.A. Hoffmanns romantischer Kriminalerzählung „Das Fräulein von Scuderi“ eine Graphic Novel mit Tiefgang

E.T.A. Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“, 1819 erstmals erschienen, ist eine frühe Kriminalgeschichte, komplett mit einer rätselhaften Mordserie, einem unschuldig Verdächtigten, seiner holden Geliebten, ferner einem unbarmherzigen Vertreter der staatlichen Exekutive und, als Gegenspielerin und Titelfigur, einer reizenden Vorgängerin der Miss Marple.

Das „Fräulein von Scuderi“, für deren Figur die reale Schriftstellerin Madeleine de Scudéry, eine bedeutende Autorin des franzöischen Barock, Patin stand, ist im Jahr 1680, da die Geschichte spielt, 73 Jahre alt. Als anmutig und etwas zerbrechlich stellt Hoffmann sie dar, und dabei von großem Esprit und geistiger Klarheit. Ihren Antipoden findet sie im Juwelier Cardillac, dessen Auftritt in Hoffmanns Erzählung der modernen Psychologie zu einem prägnanten Terminus verhalf, dem sogenannten Cardillac-Syndrom.

Die Scuderi verkörpert ein humanistisches, aufgeklärtes Idealbild der Kunst und des Künstlers. So scheut sie sich nicht, zum Wohle der Gerechtigkeit sogar den absolutistisch herrschenden Sonnenkönig Louis XIV. zu einer Korrektur seiner Ansichten zu bewegen. Der geniale Juwelier Cardillac hingegen ist seiner eigenen Kunst krankhaft verfallen. Nicht zum Wohle und zur Freude anderer Menschen stellt er seine prachtvollen Schmuckstücke her, sondern allein für sich selbst. Er kann es nicht ertragen, sie fortzugeben, und pflegt sie sich deshalb mittels mörderischer Raubüberfälle wiederzuholen. Die längste Zeit bleibt er unerkannt, bis das Fräulein von Scuderi mit sanfter Beharrlichkeit dafür sorgt, dass ein Unschuldiger entlastet und der wahre Täter gefasst wird.

Hoffmanns berühmte Erzählung ist mehrfach verfilmt worden, und in der Tat ruft sie laut nach Visualisierung. Allein sich das Paris und das Versailles zur Zeit Ludwigs XIV. vorzustellen, ist eine Aufgabe, die man gern durch optischen Input unterstützt haben möchte. Das Illustratorengespann Alexandra Kardinar und Volker Schlecht, auch agierend unter dem Gruppennamen Drushba Pankow, hat sich nun der romantischen Kriminalerzählung angenommen und ein sehr eigenes Kunstwerk daraus gemacht, das mit „Graphic Novel“ eigentlich nicht völlig zutreffend beschrieben ist. Denn die komplexen Tableaus, mit denen Drushba Pankow arbeiten, ersetzen keineswegs die Lektüre der Erzählung selbst. Deshalb ist es gut, dass der Hoffmann’sche Text in vollständiger Länge mit im Buch abgedruckt ist. Man tut gut daran, ihn zuerst zu lesen und sich danach auf seine grafische Interpretation einzulassen. Mit wenigen, kräftigen Basisfarben und mit Figuren, die oft gleichsam einen Schatten aufs Blatt werfen, als seien sie Darsteller in einem Papierpuppentheater, stellen die Illustratoren die wichtigsten Szenen der Erzählung gleichsam nach wie in einer Abfolge von Filmstills.

Eingeschobene, in der Rückschau erzählte Passagen, von denen die Erzählung zahlreiche aufbietet, werden in davon abgehobener, kleinteiliger Bilderfolge wiedergegeben. Das ist sehr gut gemacht und noch bis in die zahlreichen historischen Anmerkungen hinein, von denen die Graphic Novel ebenso durchzogen ist wie der Text selbst, geistreich und hintergründig. Durch die pointierte grafische Typisierung der Figuren gewinnt die Erzählung an interpretatorischer Eindeutigkeit, durch den spielerischen und dabei so unaufdringlichen Detailreichtum an historischer Tiefe. Wäre man jetzt Deutsch- oder Kunst- oder auch Geschichtslehrerin, so würde man sich dringend eine günstige Schulausgabe dieses wirklich spannenden Klassikers wünschen. KATHARINA GRANZIN

E.T.A. Hoffmann: „Das Fräulein von Scuderi“. Graphic Novel von Alexandra Kardinar und Volker Schlecht. Edition Büchergilde, Frankfurt a. M. 2011. 157 Seiten, 24,99 Euro