: ... oder Tiere streicheln?
VEGAN Auf keinen Fall essen und auch nicht den fleischessenden Tischnachbarn das Salz reichen, meint die überzeugte Veganerin Hilal Sezgin
Im Alter von dreizehn Jahren wurde ich Vegetarierin. Ich vermisste anfangs den Geschmack von Fleisch sehr, hatte einen Rückfall, wurde dann wieder Vegetarierin und bin es seither geblieben. Den Fleischverzehr der anderen fand ich nicht eklig, zumindest nicht ästhetisch. Nach dem anfänglichen Übereifer, meine Umgebung zu bekehren (man darf Tiere nicht töten, nur weil man ihren Geschmack mag), habe ich auch damit aufgehört. Brav habe ich lange neben Fleischessern gegessen; sie verzehrten ganze Fische mit Augen und Gesichtern, sie grillten Würste aus zermahlenen Schweinen, verzehrten Kleinkinder diverser Säugetiere mit und ohne Soße – ich war es gewöhnt. Es hatte keinen Sinn, überall schlechte Laune zu verbreiten.
Bis mir meine Schafe einen Strich durch die Rechnung machten. Nach gut zwanzig friedlichen vegetarischen Jahren „erbte“ ich eine kleine Schafherde mitsamt Lämmern. Ich desinfizierte Bauchnabel; beobachtete, mit welcher Sorge eine Schafmutter nach dem Lamm ruft, wenn es außer Sicht ist; brachte Ausreißer vor dem norddeutschen Dauerregen in Sicherheit; kam schließlich sogar in die Situation, vier Lämmer mit der Flasche aufzuziehen. Diese Lämmer und Schafe also veränderten mich. Zunächst einmal machten sie mich zur Veganerin. Denn auch wenn mir der Gesamtkomplex „Säugetier“ schon vorher klar gewesen war, verstand ich jetzt erst, welche Qual es für Kühe bedeutete, wenn man ihnen die Kälber wegnahm (damit die nicht die Milch „weg“-trinken). Nach dieser Veganisierung brachten mich meine Schafe auch noch um beschauliche Abende im Restaurant, harmlos plaudernd zwischen fleischessenden Freunden. Als jemand neben mir „Lamm“ bestellte (tot und zum Essen!), verspürte ich einen starken Würgereflex, erbrach also fast unter den Tisch.
Natürlich versuche ich, mich zusammenzureißen. Doch wenn die Speisekarten gezückt werden, bricht mir der Schweiß aus. Das geht nicht einmal über den Kopf, sondern direkt über Bauch und Nerven. Ich komme einfach nicht dagegen an, es ist für mich wie Kannibalismus. Zwei Jahrzehnte habe ich versucht, zumindest halbwegs kompatibel in einer Fleischessergesellschaft zu leben, dann haben mich die Schafe mit ihrem gemütlichen Grasgemalme auf ihre Seite gezogen. Auf die Seite der reinen Pflanzenesser. Tatsächlich bleibt ungeheuer viel zum Essen übrig! Das schlechte Gewissen ist man los, die Pflanzenwelt ist groß genug für kulinarische Experimente. Hier passen Essen und Streicheln endlich zusammen.
■ Hilal Sezgin streitet auf dem tazlab mit Christian Rätsch und Antoine F. Goetschel in „Aufessen oder streicheln?“